Das halbe Haus: Roman (German Edition)
»Stimmt. Ist ein Grund.« Sie lachten. Seltsam hell, keckernd. In das Keckern hinein sagte der Tätowierte, dass sie sich unbedingt den Rucksack anschauen sollten, jetzt. Jakob sah nur noch schimmerndes Licht. Das Licht schwamm auf seiner Iris, und in seinem Kopf machte sich die Sprachlosigkeit breit. Er hörte, wie sein Rucksack geöffnet wurde. Schmutzige, beringte Hände stöberten in seinen Habseligkeiten. Plötzlich näherten sich Schritte. Das Stöbern hörte auf. Eine vertraute Männerstimme sagte: »Ihr habt genau zehn Sekunden, um durch diese Tür zu sprinten. Schafft ihr’s nicht, besuche ich euch im Jugendwerkhof. Die Zeit läuft.«
Stuhlbeine kratzten über das Holz, sein Rucksack plumpste zu Boden, Schritte stolperten die Treppe hinunter. Aus der Ferne rief einer der beiden Kerle: »Wir warten auf dich, Kleine.«
»Wir kennen deinen Namen«, rief der andere.
»Jakob Friedrich«, rief der eine.
»Jakob Friedrich«, rief der andere.
»Junge«, sagte der große Schatten, den er durch den Schleier seiner Tränen ausmachen konnte, »ich bringe dich jetzt nach Hause. Nächstes Wochenende sind die Hallenmeisterschaften, da musst du topfit sein.« Der Trainer griff seinen Rucksack und seine Hand.
★
Die Kiesgruben sind zugefroren, Nebel drücken das Land. Jemand hat Mistelballen in die Baumkronen geworfen und Perlen in die Büsche gesteckt. Schnee klumpt am Straßenrand, Splitt liegt auf den Wegen. Die Öfen ziehen schlecht, einer schreit.
Der Vater schreit: »Was soll das? Was soll das?«
Er schweigt und lässt sich schütteln.
Dem Vater fällt einfach keine andere Frage ein. Er schüttelt und ruft: »Was soll das?«
Also gibt er ihm eine Antwort. »Nur ein kleiner Ausflug«, sagt er, und dann knallt’s. So schnell kann er gar nicht gucken, da knallt es ein zweites Mal. Er stürzt. Die Fliesen sind kalt. Er rappelt sich hoch und rennt nach oben.
»Mach das nie wieder!«, schreit ihm der Vater nach.
Er wirft sich auf sein Bett und drückt sein blutendes Gesicht ins Kopfkissen. Irgendwann kommt Almut und sagt, dass er seinen Vater zu Tode erschreckt habe und dass man nur mit dem Herzen gut sehe. Nachdem er sich beruhigt hat, sagt sie: »Die großen Leute sind sehr sonderbar.« Sein Körper hat sich versteift, er lehnt ihren Trost ab.
»Keiner von den großen Leuten wird je die Sorgen und Nöte der Kinder verstehen«, sagt sie.
»Genau«, sagt er und kann das Lachen nicht aufhalten.
6. Seele
Bericht zur Person F R I E D R I C H, Frank
Am Sonntag, dem 13.12.1981, betrat ich gegen 16 Uhr 15 das Wohnhaus des FRIEDRICH, Frank. Der Anlaß war die Abschiedsfeier seiner Mutter WINTER, Polina, die tags darauf in die BRD übersiedelte. Die WINTER begrüßte mich, so wie es ihre Art ist, auf reservierte Weise. Wie immer wirkte sie sehr geschäftig und distanziert, sie wirbelte in der Küche umher und kochte, Angebote zur Unterstützung wies sie zurück. Wie sich herausstellte, hatte sie die Zutaten für die Gerichte, die sie zubereitete, durch Tauschhandel erworben. Die Gans hatte sie mit Hilfe von drei Päckchen „Jacobs Krönung“ ergattert, einem Kaffeeprodukt aus der BRD, und den Wein mit Hilfe von einem Päckchen „Jacobs Krönung“. Vermutlich stammte der Kaffee aus einem Intershop. Woher die WINTER die Valuta hatte, ist nicht bekannt. Jedenfalls brüstete sie sich mit ihren Tauscherfolgen. Den überwiegenden Teil des Abends jedoch war sie in Gedanken versunken und machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Durch Äußerungen der anwesenden Schwiegertochter, der WINTER, Inge, kann darauf geschlossen werden, daß die WINTER von dem FRIEDRICH zum Verlassen unserer Republik gedrängt worden ist. Offenbar erhofft er sich dadurch, daß so, aus Gründen der Familienzusammenführung, seinem Ausreiseersuchen eher stattgegeben wird. Die anwesenden Familienmitglieder verlauteten, daß das Verhalten des FRIEDRICH eigennützig und gegen unseren Staat gerichtet sei. Besonders sein Halbbruder, der WINTER, Siegmar, ließ kein gutes Haar am Tun des FRIEDRICH. Aufgebracht warf er ihm vor, andere Menschen seien ihm „scheißegal“. Der FRIEDRICH hingegen beharrte darauf, daß es in unserem Land keine Freiheit gebe, daß er sich hier nicht entfalten könne, seine Meinung nicht frei äußern könne und für sich hier keine Zukunft sehe. Die DDR sei ein „Halunkenstaat“, dessen „Oberganoven“ würden gegen Völkerrecht verstoßen. Unterstützung fand der FRIEDRICH durch seinen Freund, den
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