Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Als seien es Zugvögel, die erst im Frühjahr wiederkamen. Er wollte etwas Gutes sagen, zum Trost für Falk, zum Trost für sich. »Ich bin ja nicht aus der Welt«, sagte er.
Ein letztes Mal gaben sie sich die Hand.
In der Halle flogen seine Schritte nach oben. Die Schritte aller flogen nach oben zu den Steinwaben, die das Deckengewölbe bildeten. Unten, auf dem Boden der Tatsachen, setzte er einen Fuß vor den anderen. Er achtete darauf, dass er nicht auf das Raster trat, das die Marmorquadrate begrenzte. Er war ein Springer.
Rechts hatte sich eine Bauernreihe formiert, links war der Weg frei. Rechts befanden sich die Schalter für den Nahverkehr, links, unter einer Pneumant-Reklame, die für den Fernverkehr. Er drehte sich nach dort und rückte vor. Die Frisur der gegnerischen Dame glich einem Blumenkohl. Er wich aus, zwei Felder zur Seite, bis er vor einem König stand. Er brauchte einen König, weil Könige viel schwächer waren als Damen. Doch er war seiner Sache nicht mehr sicher.
Es war schon komisch, dass er nun auch eine Sache hatte, so wie sein Vater. Noch komischer war es, dass er seine Sache bis hierher durchgezogen hatte. Dabei war gar nicht klar, ob es eine gute Sache war. Falk hatte Zweifel gesät, genau genommen hatte er die vorhandenen Zweifel nur gestärkt. Hinzu kam, dass Jakob viel zu wenig wusste. Was er allerdings wusste, war, dass er nicht zurückwollte in das halbe Haus, in dem Almut morgens mit hoher Stimme Kirchenlieder sang und nachts stoßweise Liebeslieder.
»Du bist am Zug«, sagte eine entfernte Stimme. Der König, ein Mann mit Backenbart und dicker Brille, sah ihn durch doppeltes Glas an. »Berührt, geführt«, sagte er. Ein Lächeln umspielte seinen Mund.
Jakob suchte im Gesicht des Mannes nach einer Möglichkeit. Ernsthaft hatte er geglaubt, das Heft mit der Fächerfrau – alles, was Männern Spaß macht – gegen eine Fahrkarte eintauschen zu können. Schließlich hatte ihm seine Großmutter vorgemacht, wie man mithilfe der richtigen Tauschobjekte selbst das Unmögliche ergattern konnte. Doch jetzt wagte er es nicht, das Heft herauszuholen. Er schob die Unterlippe vor und die Daumen unter die Riemen seines Rucksacks. »Ich muss noch überlegen«, sagte er.
»Überlegen ist nie verkehrt«, sagte der König. »Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Manchmal gibt es auch etwas dazwischen.«
Darüber dachte er nach, als er die lange Treppe zu den Gleisen hochstieg. Die große Uhr über den Türen trieb die Zeit voran. Ein Dazwischen konnte er sich nicht vorstellen. Nicht für seinen Vater und sich. Die Ulmens, die lebten dazwischen, die hatten den Westen im Osten, und Mo, der hatte den Osten im Westen, die durften reisen und kamen zurück. Für ihn und seinen Vater gab es dagegen nur das eine oder das andere.
Er betrat das Bahnhofsrestaurant. Gelber Rauch schlug ihm entgegen und der säuerliche Geruch von Bier. Er ging zu einem der Podeste am Ende des hohen Raums, auf dem ein halbes Dutzend freier Tische stand. Niemand hielt ihn auf und befahl ihm, auf eine Platzierung zu warten. Er packte Tintenfass, Füller und Notizheft auf einen der Tische. Der Schankwirt und eine Kellnerin beobachteten ihn vom Tresen aus. Beide rauchten, beide waren schwarz und weiß gekleidet, und beide machten keine Anstalten, zu ihm zu kommen.
Er schlug das Notizheft auf und teilte die nächste freie Seite durch einen langen Strich. Für den Westen sprach die Großmutter, trotz ihrer Fehler und seiner Scheißwut, die zum Jahreswechsel umgeschlagen war in etwas anderes. Wenn er im Westen wäre, wäre er weg von hier. Das sprach fürs Abhauen. Allerdings wäre er dann auch weg von Falk. Dort würde er in Bundesliga-Bettwäsche schlafen können, jede Woche in einem anderen Verein. Es erschien ihm nicht triftig. Gegen den Westen sprach, dass er da nicht Olympiasieger werden könnte. Wen hatten die denn schon? Den Hingsen und den Schmid, ja gut. Und die Meyfarth. Das war’s dann aber auch schon. Die Sache mit dem Rauschgift sprach definitiv gegen den Westen. Dass man Frauen kaufen konnte, fand er auch nicht nur interessant, und die Aufrüstung war sowieso schlecht. Wochenlang hatte eine Illustration an der Klassenwandzeitung gehangen: Von einem Schirm in den Farben und Symbolen der amerikanischen Flagge tropften spitze Raketen mit zackigen Flügeln auf die Erdkugel. Die Überschrift lautete: »Die Welt unterm Reagan-Schirm«. Die Russen seien keinen Deut besser, hatte ihm sein Vater erklärt. Also
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