Das halbe Haus: Roman (German Edition)
bei Twain, dass ein nackter Mann so gut wie keinen Einfluss auf die Gesellschaft habe. An mehr erinnert er sich gerade nicht. Doch, an die abgebissene Brustwarze in »Neuland unterm Pflug« und an »Collin« von Heym. Vor zig Jahren hat er mit dem Lesen angefangen, noch vor Friederike, als er im Sommer auf dem Bau Schicht schob und im Wechsel mit zwei anderen im selben Bett schlafen musste, wie im U-Boot. Doch in den fremden Gerüchen und Geräuschen konnte er kein Auge zutun, stattdessen las er. Jeder bekam einen Spitznamen, es gab Straps-Gerd, Skat-Uli, Schrauben-Hannes, ihn riefen sie Bücher-Frank. Er las im Studentenwohnheim, bis der grüne Kunststoffschirm durchgeschmort war oder Uwe, sein Zimmergenosse, die Faxen dicke hatte. Er las, wenn er zu Hause war und sich nach dem Essen in sein altes Zimmer verzog, weil ihn der Alte beargwöhnte und seine Mutter sich über seine neue Marotte, wie sie es nannte, ausließ. Das Lesen verderbe die Augen und krümme den Rücken, sagte sie. Für ihn ist es Körperpflege, die er schon lange nicht mehr betreibt. Er kann nicht sagen, wann er zuletzt ein Buch gelesen hat. Auch die Musik wird weniger. »Blues ist die Musik der auch Unterdrückten«, hat er einmal auf einer Betriebsfeier gesagt. »Wieso auch?«, hat Langrock gefragt. Am Ofen lehnt die Gitarre, die Saiten sind schlaff, ein Paar durchbrochener Strümpfe hängt darüber wie Tüll im Obstbaum. Das Akkordeon schläft auf dem Bauernschrank, die Bongos dösen neben den Boxen. In dem achteckigen Beistelltischchen mit dem geschliffenen Glas stehen der Rum, der Cognac. Er müsste sich nur aufraffen und einen Schritt und einen Handgriff tun, um sich einen einzuschenken. Aber der Sessel hält ihn. Keine Chance aufzustehen. Vom Sessel aus sieht er das Loch ihres Mundes und ihre Nase. Das Kissen hält ihren Hinterkopf umfasst, die Locken haben sich in ihre Stirn geschoben, sie bedecken ihre Wangen und bilden eine Halskrause. Er sieht nur ihren Mund und ihre Nase, aber er hört sie. Weiß Gott, er hört sie. Würde er sich aus dem Sessel erheben und die paar Schritte zum Bett gehen, könnte er womöglich ihre Füllungen, ihre Nasenhaare und ihr flatterndes Gaumensegel sehen. Aber er kann nicht aufstehen. Ihm brummt der Schädel, er müsste jetzt eine Spalt nehmen oder besser zwei, doch nie im Leben kann er jetzt aufstehen. Vor dem Bett liegt ihr Kleid – das andere Kleid – und auf dem Tischchen die Stanniolkrone, verbogen die Zacken. Über den Teppich sind ihr BH , ihr Slip und ihre Strumpfbänder verteilt. Gestern noch hat ihm das Spitzenzeug gefallen. Aber heute, am Aschermittwoch, ist alles vorbei. Von all deinen Küssen darf ich nichts mehr wissen. Wie schön es auch sei, nun ist alles vorbei. Sein eigenes Kostüm liegt auf dem zweiten Sessel. Selbst im Suff noch auf Kante gelegt, elender Spießer, zwanghafter. Er ist als Kannibale gegangen, mit Knochen im Kunsthaar, Bastrock und Schmauchaugen, die ausgeschabte Kokosnusshälfte um den Hals. Vor einer Zofe, einer Katze, einer Prinzessin hat er sich ins Zeug gelegt und gesagt, dass er sie zum Fressen gern habe, dass er sie appetitlich finde, ihm tropfe der Zahn – und dergleichen grauenvolles Zeug mehr. Die Erinnerung macht eine Gänsehaut. Er zieht den Bademantel zu, selbst der stinkt nach kaltem Rauch. Außer Katzen gab es noch Mäuse und ein paar Teufelinnen, nicht am Schwanz zu unterscheiden, aber von vorn. Es gab eine blonde Kleopatra, einen fetten, traurigen Frosch, zwei Hofdamen, die eine Königin und etliche, die schlicht als Luder gingen: tief ausgeschnitten, in Fischnetzstrümpfen und paillettenbesetzten Korsagen. Im Grunde war niemand verkleidet, mal abgesehen von dem Frosch. Und der Königin, die keine ist, denn Königinnen schnarchen nicht. Er war der einzige Kannibale unter Neptunen, Ärzten und den ewigen Clowns. Badelatschen, Bastrock, Knochen, Kokosnuss – was hat ihn nur geritten. Und dann der Ringelpiez, jetzt fällt’s ihm wieder ein: »Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse, denn nun geht sie los, unsre Polonäse, von Blankenese bis hinter Wuppertal (langes, langes Tal). Wir ziehen los, mit ganz großen Schritten, und Erwin fasst der Heidi von hinten an die … Schulter.« Alle haben mitgegrölt, er war Erwin und hat zugefasst, und Heidi war nicht Almut. Das hebt die Stimmung, ja da kommt Freude auf. Der Junge besitzt dieses Quarzding zum Malen, wie heißt das noch, wo man mit einem Wisch alles tilgen kann. Ein Königreich für so ein
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