Das halbe Haus: Roman (German Edition)
keine Kopfschmerzen kriegen? Wie soll man da nicht verrückt werden, wenn ein Imitator wie der gestern Abend ein Imitat imitiert? Merken das die Leute nicht? Nein. Tusch, Riesenapplaus, saugut, erste Sahne, so geht’s doch wirklich zu, prost! Spätestens jetzt wurde es Zeit, sich mit dem Trinken ranzuhalten, und das tat er dann auch. Der Plattenunterhalter übernahm, zur Ostmucke drehten sich nur wenige Paare auf der Tanzfläche, als »Xanadu« lief, füllte sich das Parkett, und bei der Polonaise machten so gut wie alle mit. Gestern Nacht hatte er alle zum Fressen gern, und jetzt würde er am liebsten kotzen. Er schließt die Augen, und Tinte fließt unter seine Lider, zieht zur Pupille, nur eine helle Blesse bleibt. Er hört eine Musik, erst leise, aber immer lauter werdend. Keine Schlagermusik, nichts Deutsches, sondern eine Musik, die ganz anders ist, so frei, so in die Welt gespielt: Eagle flies on Friday. On Saturday I go out and play. Distel singt. Seine Folk-Blues-Band spielt in einem Connewitzer Hinterhof, zwischen Mülltonnen und Wäschestangen. Es ist ein heißer Tag, die Musik prallt gegen die Brandwand und die Fassaden und schallt zurück. Es ist ein abbruchreifes Mietshaus, das nur vom Atem seiner Bewohner getragen wird, aber der Atem ist stark. Distel macht Footstomping, der Drummer begleitet ihn auf der Mülltonne. Der Grill glüht, darauf brutzeln die langen Pferdewürste, die einer organisiert hat, eine Delikatesse. Nach wie vielen hat man einen ganzen Gaul im Wanst? Der Kerl am Rost, groß und haarig, löscht die Flammen mit Bier: Zisch. Der Blues spielt, Mann, der Blues. Er spürt den Staub zwischen seinen Zehen, er sieht das blaue Viereck des Himmels, er fühlt die Wärme des jungen Sommers und die Kühle des alten Hinterhofs. Distel holt die Harp raus, eine echte Hohner. Er schnauft, lässt Dampf ab, rollt an, nimmt Fahrt auf. Er kaut die Töne und schmeckt sie im Mund, lässt sie in die Nebenhöhlen und wieder hinausfahren. Cora tanzt mit offenem Haar, es stört sie nicht, dass sie die Einzige ist. Sie trägt eine Nesselbluse. Die anderen wippen mit den Füßen, wiegen ihre Hüften, klatschen. Der Zug wird schneller, die anderen steigen ein, steigen zu Cora ins Abteil, Midnighttrain. Das Haar der Frauen ist gescheitelt, sie drehen sich, ihre Röcke und ihr Haar heben ab. Der Beton ist rissig, das hier ist ein ausgetrocknetes Flussbett, aus dessen hinterstem Winkel fließt wilder Wein über die halbe Brandwand. Kinder tanzen mit ihren Müttern und Vätern. Jakob tobt mit ein paar Jungs herum. Er ist acht oder neun, er lacht seinen Vater an. Ist das ein Glück, der Vater dieses lachenden Kindes zu sein. Eine alte Frau rafft ihre Kittelschürze zum Cancan. Jasper kommt. Seine Augen glänzen, er stößt ihn in die Seite: »Mann, das isses. So geht’s, so is’ richtig.« Besser könnte er es auch nicht sagen. Er weiß, dass er am Leben ist. Mann, er ist am Leben. Und mehr braucht er doch nicht: den Blues, zwei, drei Freunde, den tollenden Sohn, Wärme und Kühle, glühende Kohlen und Bier, ein Stück blauen Himmels, Frauen, die sich drehen, Kinder, die lachen, alles irdische und himmlische Kinder, auch er. Ist doch alles ganz einfach, alles ganz easy. Er ist hier, und er ist frei, obwohl er hier ist – weil er hier ist. Kann das nicht andauern? Kann nicht mal jemand machen, dass es nur so ist, ewig, dass die Musik immer spielt? Pfaffe, wie sieht’s aus, leg ein Wort für mich ein, und ich singe seine Lieder. Lord, have mercy. O Lord, have mercy. Aber Gott hat keinen Bock. Tendenz lustlos. Gott ist schlapp, und sein Geschöpf im Bademantel ist es auch. Schlapp und schlecht. Preacher was a talkin’, there’s a sermon he gave: Jeder Mann is’ voller Niedertracht und verdorben, und Schlucken is’ nich’ leicht. Schlucken is’ nich’ leicht. Verschluckt ist das Schnarchen. Endgültig hat sie es runtergeschluckt, es kommt nicht wieder. Noch bevor er die Augen öffnet, weiß er, dass sie wach ist. Sie dreht sich zur Seite, blinzelt ihn an und fährt sich mit dem Handballen über die Nase. »O Gott, habe ich etwa geschnarcht?« Jetzt ist es an ihm, was zu sagen. Wie ein Kerl. Er denkt, dass er klar und deutlich äußern sollte, dass ihn ihr Schnarchen abstößt, dass sie nicht nur beim Ein-, sondern auch beim Ausatmen lärmt. Er sollte sagen, dass das so nüscht wird mit ihnen, er ist elend, und sie ist – ein Fehler. Sie stützt sich auf den Ellenbogen, ihr Busen ist entblößt, sie senkt
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