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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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»Insofern ist er ein Idealist.«
    »Vergiftet!«, stöhnt Inge. »Wo werden denn die Natur und die Menschen in unserem Land vergiftet?«
    »Sie sind doch Chemikerin und kennen die Schadstoffe in unseren Proben«, sagt Monika.
    »Ihr seid gerade ein bisschen auf dem Holzweg«, greift Anita ein. »Entscheidend ist etwas anderes: Er hat seine Frau verloren. Und zwar nicht durch Scheidung oder so etwas. Sie ist ihm gestorben. Ein Schicksalsschlag.«
    Alle schauen ins Leere, als Anita die Worte »Schicksalsschlag« und »verwitwet« aufschreibt. »Wer trauert, ist schön«, sagt sie, was sie sofort bereut, obwohl es niemand zu deuten scheint. Aber sie weiß, wovon sie spricht. Trauer verleiht Größe, macht frei von allem Kleinlichen. Der Trauernde erlangt eine Reinheit und Redlichkeit, die er zu Zeiten, da das Leben bloß das Leben war, nie besaß. Deshalb ist der Trauernde ein schöner, guter und begehrenswerter Mensch, der ganz radikal er selbst ist. Auch wenn er trinkt oder sich anderweitig berauscht.
    »Und er spielt sehr schön Gitarre«, sagt Monika mit fernem Blick. Das und noch einige andere Schlagworte bringt Anita zu Papier, dann reißt sie das Blatt vom Block und schreibt in einem Guss den Annoncentext. Schweigend lesen die Frauen. Nach einer Weile schenkt Simone noch einmal alle Gläser voll.
    »Was kostet das überhaupt?«, will Dr.   Spohn wissen, nachdem sie ex und hopp getrunken haben.
    »Die fettgedruckten Worte kosten 2,60, jedes Wort bis fünf Zeichen kostet eine Mark, jedes weitere Wort 1,30«, erklärt Anita. »Wörter mit mehr als fünfzehn Buchstaben müssen doppelt bezahlt werden.« Sie schreibt eine Zahlenkolonne unter den Anzeigentext. »Alles in allem 66,20   Mark, die ersten beiden Worte fett. Geteilt durch sechs.«
    Jede Frau kramt einen Schein und Kleingeld hervor. Anita nimmt das Geld entgegen und verwahrt alles in einem grauen Briefumschlag des Kombinats. Nach weiteren zweihundert Gramm Wodka und stillem Herumblättern verabschieden sich ihre Kolleginnen, leere Bleche, Backformen und Schüsseln unterm Arm.
    Als sie oben auf Connys Balkon tritt, bemerkt Anita, dass die fünf noch vor dem Haus zusammenstehen. Dr. Spohn raucht, während Helga Novak sagt: »Dürfen wir das überhaupt? Über seinen Kopf hinweg? Müssen wir ihn nicht fragen?«
    »Ich habe ganz andere Bauchschmerzen«, sagt Inge. »Er hat einen Antrag gestellt. Wie soll das denn klappen mit einer Beziehung?«
    »Erst mal sehen, ob sich überhaupt eine meldet«, sagt Monika. »Und wenn keine schreibt …«
    »Sie lassen schön die Finger davon«, sagt Inge. »Haben sich doch schon einmal verbrannt.«
    »Wer fährt eigentlich?«, fragt Helga Novak. »Ich kann nicht mehr geradeaus gucken.«
    »Ich«, sagt Simone.
    Immer fahren die, die am meisten gesoffen haben, denkt Anita. Und dann denkt sie noch, dass nur »Schicksalsschlag« mehr als fünfzehn Buchstaben hat. An diesem Wort ist nichts zu sparen.
    Zum Glück kennt Anita wen, der wen kennt, der wen kennt, der in der Anzeigenredaktion arbeitet und dessen Datsche ein undichtes Dach hat. So kann die wochenlange Wartezeit durch eine Rolle Teerpappe verkürzt werden, und schon in der Aprilausgabe erscheint in dem beliebten Magazin, dessen Redaktion mit dem Orden »Banner der Arbeit, Stufe I« ausgezeichnet worden ist, folgende Chiffre-Anzeige:
    » Eine Frau su. verw. Dipl.-Ing. nach schwerem Schicksalsschlag. Habe 11jähr. Sohn, mit dem ich gern verreise. Spiele Gitarre, lese und treibe Sport. Ich su. eine polyglotte, schöne, lebenskluge, kinderl. Eva mit Niveau und Sinn fürs Übersinnl., mit der ich wieder lachen kann. Bin 35, 1,86 groß, habe dunkle Locken und blaue Augen. DEWAG , 7010 L., PSF 240.«
    »Wenn ich es so gedruckt sehe«, sagt Dr. Spohn, »dann finde ich es etwas einfältig.«
    »Geschadet hat es aber nicht«, sagt Anita und schüttet die Briefe auf den Küchentisch, die sie im Suppentopf gesammelt und versteckt hat. Karl hat wieder Nachtschicht, und Conny lernt und übernachtet bei einer Freundin.
    »Wahnsinn«, sagt Simone. »Das dürften so an die zweihundert sein.«
    »Wo gibt es denn solche Umschläge zu kaufen?«, sagt Helga Novak und zieht ein fliederfarbenes Kuvert aus dem Haufen.
    »Dieser Umschlag ist ein Ausschlussgrund, finde ich«, sagt Dr. Spohn, die ein Fahrtenbuch vor sich liegen hat. »Ebenso wie rote Tinte oder Blümchenaufkleber oder parfümierte Briefchen.«
    »Da fällt ja schon ein Viertel weg«, sagt Simone.
    »Wir baten um Niveau«,

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