Das halbe Haus: Roman (German Edition)
erinnert Dr. Spohn.
»Erst mal sollten wir alle Briefe aufmachen«, sagt Anita, »bevor wir jemanden ausschließen. Immerhin haben sich alle viel Mühe gegeben.«
»Und die Fotos ansehen«, sagt Monika.
»Wir haben ganz vergessen«, sagt Inge zu Anita, »ein Bild anzufordern.«
»Wir wollten doch das Äußerliche nicht so wichtig nehmen.«
»Ja«, sagt Inge. »Geht’s jetzt mal los?«
Anita verteilt Messerchen, und jede stapelt drei Dutzend Briefe vor sich.
»Moment«, sagt Dr. Spohn und schlägt das Fahrtenbuch auf. »Wir müssen das mit System machen. Ich habe mir etwas ausgedacht. Wir kategorisieren nach sechs Rubriken. Die Rubriken lauten: Alter, Größe, Ort, Bildungsgrad, Originalität, Niveau. So eine Art Stadt-Land-Fluss der Liebe.«
»Ich weiß nicht, ob wir das so wissenschaftlich angehen können«, sagt Inge.
»Werte Kollegin«, antwortet Dr. Spohn. »Was wir als Liebe bezeichnen, ist in Wahrheit Neigung, Genetik und Biochemie. Die sogenannte Liebe ist hormoneller Aufruhr, Nestbautrieb und Statusbedürfnis. Ergo: Wir müssen das so wissenschaftlich angehen.«
»Wie traurig, dass Sie die materialistische Dialektik auf etwas so Schönes wie die Liebe anwenden«, sagt Inge.
»Finde ich auch«, sagt Simone.
»Zur Orientierung ist so ein Raster gar nicht verkehrt«, sagt Anita. »Irgendein System brauchen wir doch.«
»Gut«, sagt Inge. »Weiter im Programm.« Sie öffnet den ersten Brief und liest vor: »›Schöner fremder Mann, wann fängt für uns die Liebe an?‹« Sie hält ein Foto in die Höhe, das eine üppige Frau im kurzen Kleid zeigt. »Liebe Kollegin«, sagt sie resigniert zu Dr. Spohn, »ich entschuldige mich bei Ihnen in aller Form. Sie haben absolut recht.«
Unter lautem Lachen machen sich alle an ihre Briefe. Aber das Lachen verklingt. Die Kolleginnen der Abteilung Mess- und Probentechnik müssen durch ein Wechselbad der Gefühle: Auf Neugier folgt Ärger, auf Rührung folgt Scham. Schnell ist klar, dass die Rubriken tatsächlich nicht weiterhelfen. Die Briefe fordern ihr eigenes Recht. Natürlich sind einige lächerlich, dumm, kitschig oder eitel, aber das macht nichts. Viele Frauen offenbaren ihr Innerstes, ihre Angst, ihre Lust, ob bewusst oder unbewusst. Sie vertrauen sich einem fremden Mann an, weil der den Schmerz kennt. Anscheinend haben sie niemanden zum Reden, keine Frauentagsrunde, denkt Anita, und wissen sich eben nicht gut zu helfen. Eine schreibt, dass ihre Tochter nicht mehr mit ihr spreche. Eine beteuert, dass sie eine anständige Frau sei. Eine fragt, was sich der Mann bloß einbilde, der all diese Eigenschaften von einer Einzigen fordert. Eine schreibt, dass sie auch immer Gitarre spielen wollte und dass ihre Mutter im Sterben liege. Eine schreibt, dass sie sonst nie solche Briefe schreibe. Eine gesteht, dass sie »polyglott« im Lexikon nachschlagen musste und deshalb nicht infrage kommt. Eine will wissen, ob er in der Partei sei. Eine Frau schreibt, dass sie seit fünf Jahren nicht mehr mit einem Mann geschlafen habe. Drei fragen, ob er an Gott glaube. Eine erkundigt sich, ob er kirchlich heiraten wolle. Viele wünschen sich noch ein Kind, sprechen das aber nicht aus. Viele wollen ihn treffen. Aber nur eine fragt nach seinem Namen.
»Mein Gott«, sagt irgendwann Helga Novak, »das alles wollte ich gar nicht wissen.«
»Siehst du dich im Spiegel?«, fragt Inge.
»Wir alle wollen geliebt werden«, antwortet Anita für Helga Novak. »Es ist nichts Schlimmes dabei.«
»Soll ich Nachschub holen?«, fragt Simone.
»Moment, ich glaube, ich habe hier was«, sagt Monika und hält eine Karte in die Höhe. Anita nimmt sie entgegen: nur ein schlichter weißer Karton mit ein paar Schreibmaschinenzeilen. Sie liest vor:
»›Ich habe Ihre Kontaktanzeige gelesen. Auch ich habe einen Menschen verloren, auch ich ziehe mein Kind allein auf (eine Tochter im Alter Ihres Sohnes), und ich suche einen Adam. Ich bin 31 Jahre alt, nur ein wenig kleiner als Sie, meine Haare haben die Farbe von Erdbeeren und die Länge eines Sonnenuntergangs. Ich arbeite in einer Universität. Drei Dinge möchte ich von Ihnen wissen: Welches ist Ihr Lieblingsbuch, was essen Sie am liebsten, und wie heißen Sie?‹«
»Die Länge eines Sonnenuntergangs«, sagt Simone.
»Universität«, sagt Dr. Spohn, »das hat was.«
»Na ja«, sagt Inge.
»Doch, doch«, sagt Helga Novak.
»Ein wenig Strenge, ein wenig Koketterie, ein wenig Poesie«, sagt Dr. Spohn. »Offenheit und Diskretion
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