Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Sandwege wanden sich um Wiesengründe und ausladende Bäume, unter denen weiß lackierte Stühle und Bänke standen. Das sah sie nicht, das wusste sie inzwischen. Weit unten spannte sich die Löwenbrücke über die Itz, die nach dem Tauwetter über die Ufer getreten war und die Auen überschwemmt hatte. Wie jedes Jahr, so hatte man ihr gesagt. Am Beginn der Brücke befand sich der untere Reimann, am Ende der Löwenstraße lag der obere Reimann. Im unteren konnte man Postkarten, Fotobände, historische Stiche und Bücher über berühmte Kurgäste kaufen – nur hier ist die rastlose Kaiserin zur Ruhe gekommen, und auch der Kini fand Entspannung in Itz, während so mancher russische Fürst an den Roulettetischen ein kleines Vermögen machte, und zwar aus einem großen. Der obere Reimann verkaufte Erbauliches für die Patres und die frommen Landfrauen, Agrarisches für die Bauern und die Mitarbeiter der BayWa, Literarisches für die Lehrer, Noten für die musizierenden Ärzte und Gesetzestexte für die Verwaltungsbeamten. Und so ist die Stadt: zwiegespalten in ein Oben und ein Unten, einen fremden, mondänen Teil und einen hiesigen, bodenständigen. In der Mitte fließt die Itz, ein Grenzflüsschen der harmlosen Art, nicht zu vergleichen mit der Elbe oder der Neiße, bloß ein Wasserpfad, an dem sich Mühlen und kleine Buchten befinden, über den Dampfer rollen, worin tief liegende Kähne treiben und Forellen springen. Zu Ostern also stand sie allein auf der Plattform des Bismarckturms. Ihr war, als hörte sie das Getümmel der Menschen in den Weinbergen, in den Dörfern, in den Parks und auf den Kirchplätzen. Die Menschen waren froh. Alle Glocken sprachen miteinander, gong-gong-gong. Auch sie war ein Mensch.
Sie schlägt die Decke zurück und taucht ins Licht. Die Radiouhr zeigt zehn Uhr sieben, huch. Verschwommen sieht sie im Spiegel, wie eine zerzauste Person ihr Gebiss aus dem Wasserglas nimmt und vertilgt und sich, gong-gong-gong, aus dem Bett schwingt. Es ist ihre Türglocke, die in abnehmender Tonfolge läutet. Die Person hat Schwierigkeiten, das Fenster zu öffnen, erst kippt es ihr entgegen, bevor nach einigem Gerüttel und Gehebel der Flügel aufschwingt. Unten, zwölf Stockwerke tiefer, steht jemand. Ein Mann. Der Mann winkt mit etwas, einem Schirm vielleicht, und ruft: »Huhu!« Sie rätselt, wer das sein könnte. Der Eiermann ist es wohl nicht, auch keiner der Krankenpfleger und auch nicht der, der Essen auf Rädern bringt für die vielen Gebrechlichen im Haus. Noch nimmt sie keinen dieser Dienstleute in Anspruch, das wäre ja gelacht. »Huhu, Paulina!«, ruft der Mann und winkt mit seinem Schirm. Sie verlässt das Fenster, um ihre neue Brille mit den blauen Gläsern und geschwungenen Goldbügeln aufzusetzen. Als sie zurückkommt, ist der Mann verschwunden.
Sie muss auf den Balkon und nachsehen, ob der Mann ums Haus herumgegangen ist. Der Balkon, eigentlich eine Loggia, nimmt die ganze Fensterfront des Wohnzimmers ein. Im Wohnzimmer stehen ein großes Cordsofa von der Caritas, eine Schrankwand mit Butzenscheiben aus Liesls Keller, ein Fernseher von Nordmende und eine Stechpalme vom Wochenmarkt. Ihr ganzer Stolz sind die Gardinen, die sie vor einer Woche im Handarbeitengeschäft von Rößler direkt am Steigenberger gekauft hat. Sie wollte sich keine Blöße geben und bezahlte bar von Dame zu Dame. Zwei Seidentücher nahm sie auch noch mit. Nach und nach würde sie sich geschmackvoll einrichten, ein paar Ölbilder und Stilmöbel kaufen, einen dunklen Tisch mit geschwungenen Beinen und: Kristallgläser. Bald würde sie Leute kennen, die sie einladen könnte, gepflegte Damen und gut situierte Herren. Kuhns Liesl würde nicht dazugehören. Die hatte es als anstößig empfunden, so viel Geld für Gardinen auszugeben, als Flüchtling, wie sie sagte. Ein Flüchtling sei sie ja nun nicht, hatte Polina geantwortet, sie sei doch bloß umgezogen. Liesls Empörung hat doch ganz woanders ihren Ursprung: Sie glaubt, dass Polina ihr Lebtag Buße tun müsse wegen der Vorkommnisse nach dem Krieg. Sie glaubt, dass die Freundin aus Jugendtagen auf immer und ewig eine Schuld trägt, der sie nur durch Demut gerecht werden kann. Sie missgönnt ihr den Überschwang, und aus ihrer Mitwisserschaft macht sie eine Forderung, die nah an der Erpressung liegt. Polina solle ihr Geld für Frank aufsparen, und für Jakob. Sie müsse sich die Freiheit ihrer Kinder etwas kosten lassen, das Geld, wohlgemerkt das von Liesl geborgte Geld,
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