Das halbe Haus: Roman (German Edition)
natürlich auf Deutsch. Bei jeder Vorstellung waren fünf, sechs Amis drin – obwohl es auf Deutsch war. Zwei kamen immer wieder, soffen sich zu und stellten sich am Schluss auf die Sitze. Bei der Szene, wo Rocky knapp gegen den Neger verloren hat und seine Freundin kommt, da schreien die aus vollem Hals: ›Adrian!‹ – ›Rocky!‹ – ›Adrian!‹ – ›Rocky!‹ – ›Adrian!‹ – ›Rocky!‹«
Er ahmt die Rufe einmal mit hoher und einmal mit tiefer Stimme nach, mit amerikanischem Akzent. Sie hat schon wieder keine Ahnung, wovon er spricht. Links der Marstall und das Palais des Erbprinzen.
»Na ja, nach dem dritten Mal hab ich die M.P.s gerufen. Handschellen ran, Knie ins Kreuz – die beiden habe ich nie wiedergesehen.«
»Sie betreiben also ein Kino.«
»Sieben in fünf Städten. Das Odeon in Itz, das Odeon in Kissingen, das Odeon in Schweinfurt, das Odeon in Kitzingen, das Odeon in Fulda, und in Burgkreuz …«
»… das Odeon.«
»Eins und zwei.«
»Sehen Sie sich immer die Filme an?«
»Keinen einzigen. Von ›Rocky‹ kenn ich nur die Problemszene. Wissen Sie, dieses Hollywood ist nicht mein Fall. Ich muss es zeigen, weil die Leute es sehen wollen, aber es graust mich im Innersten. Alles ist so grell und so vulgär. Früher, da gab es noch schöne Filme und echte Stars.«
»O. W. Fischer«, sagt Polina und schaut aus ihrem Fenster. Abermals ein kleines Holzkreuz am Straßenrand, vor dem Blumen abgelegt wurden.
»Lilian Harvey«, sagt Hermann und schaut zu ihr.
»Johannes Heesters«, sagt sie und schaut geradeaus.
»Liselotte Pulver«, sagt er und schaut immer noch zu ihr.
»Hans Albers«, sagt sie und sieht ihn an.
»Marika Rökk«, sagt er, macht Grübchen und pfeift das »Schwalbenlied« aus der »Csardasfürstin«.
Als er lachend endet, fragt Polina: »Haben Sie Kinder, Hermann?«
»Keine Kinder, keine Frau. Nur meine Schwester.«
»In all den Jahren ist Ihnen keine begegnet, mit der Sie es hätten wagen wollen?«
»Nein«, sagt er. »Und Sie, Paulina, was haben Sie in Ihrem früheren Leben getan?«
»Ich war bei der Post. Und mein Mann, mein verstorbener Mann, war Eisenbahner«, sagt sie.
»Drei Söhne haben Sie, so sagten Sie?«
Sie wendet den Kopf. »Wohin fahren wir eigentlich?«
»Wir sind schon da«, sagt er und steuert den Jaguar auf einen Parkplatz.
Vor ihnen erhebt sich ein Haus aus rotem Sandstein: das Sanatorium Sartorius. Eine Frau mit Gehhilfe und ein Mann mit Infusionsständer schleichen über den Parkplatz. Als Rudolf die Operation hatte, musste sie sich sehr überwinden, sein Krankenzimmer zu betreten. Und als Friederike so lange lag und immer weniger wurde, war sie nur ein einziges Mal zu Besuch. Sie hasst Krankheit, sie hasst Ärzte. Sie versteht nicht, wie man aus Zeitvertreib zum Arzt gehen kann, so wie Liesl, die jeden Donnerstag zu einem Dr. Sonntag humpelt und sich ihr Schlotterknie begucken lässt. Für diesen Dr. Sonntag macht sie sich zurecht, sie schäkert mit ihm. Im Westen gehen die Menschen nicht zum Arzt, weil sie müssen, sondern weil sie können. Bernhard etwa lässt sich regelmäßig »durchchecken«, wie er sagt. Er kennt die Werte des bösen und des guten Cholesterins, die Menge der weißen und der roten Blutkörperchen. Ob ihn ein Leid plage, hatte sie ihn gefragt. »Nitschewo«, hatte er gesagt. Sie würde uralt werden und dann einfach tot umfallen, statt Ärzte oder Kliniken aufzusuchen. Vor Kurzem hat sie eingeschweißte Erdnüsse gekauft, die bis 2014 haltbar sind. Dann wäre sie hundert. Vielleicht hebt sie die Nüsse bis dahin auf.
»Dort hinten«, sagt Hermann, während er ihr die Tür aufhält, »das ist die Saline. Zwischen den Holzpfosten ist bis obenhin Reisig gelagert. Indem man das Solewasser hindurchrieseln lässt, wird die Luft salzhaltig. Wenn Sie es also mal auf den Bronchien haben, dann müssen Sie um die Saline spazieren.«
Im Schatten des Sanatoriums und des Gradierbaus befindet sich ein großer Park, der rückwärtig von der Itz begrenzt wird. Eine Parkhälfte wird von einem Bassin beherrscht, in dem ältere Herrschaften Tretboot fahren, in der anderen liegen Bahnen im Gras, die manchmal geknickt, manchmal gebogen sind und sich manchmal zu Loopings aufschwingen. Am Ufer der Itz stehen Schilder, auf denen die einheimischen Flussbewohner erklärt werden: Hecht, Zander, Barbe. Hermann steuert eine Hütte an.
»Salam alaikum«, sagt er durch das Fensterchen.
»Servus, Hermann«, sagt ein dunkler Mann
Weitere Kostenlose Bücher