Das halbe Haus: Roman (German Edition)
sein, am Spiegel schwingt ein Rosenkranz. Wie eine Schärpe legt sie den Gurt um, ohne die Schnalle zu schließen. Der Motor ist kaum zu hören. Ich sitze hier wie in einer Sänfte, denkt sie.
»Kennen Sie schon die Wichtelhöhlen, Paulina?«, fragt Hermann, während er einhändig durch die Kurve steuert. Im Blaupunkt-Radio läuft Schlagermusik. »Oder die Fledermausgrotte? Sie werden staunen, wie schön unsere Heimat ist. Es ist doch jetzt auch Ihre Heimat.«
»Ich möchte lieber etwas Kulturelles unternehmen.« Wo andere Menschen sind, hätte sie am liebsten hinzugefügt. »Ich habe auch nicht den ganzen Tag Zeit. Am Nachmittag muss ich zu einem dringenden Termin.«
Sie fahren an Gymnasium und Realschule vorbei. Auf einem Hartplatz spielen Jungs Fußball, Jakob könnte einer von ihnen sein. Rechter Hand liegt die Garnison der Amerikaner. Im Torbogen steht ein Soldat mit Stahlhelm und Gewehr. Hinter dem hohen Zaun wachsen Pappeln in die Höhe, und ein weites Sportfeld mit Tribünen, Flutlichtmasten und Fangzäunen öffnet sich. Manchmal beobachtet sie die Negerkinder in der Grundschule direkt neben ihrem Haus, die Mädchen mit den Kohleaugen und Drahtzöpfen und die Burschen, die Korbball spielen und sich dabei wie Panther bewegen. Neulich beim Spazierengehen ist ihr ein Zug Soldaten in grauer Sportkluft und schwarzen Halbstiefeln begegnet. Schulter an Schulter trabten sie ihrem Aufseher hinterher, der salutierte, bevor das wogende Grau an ihr vorbeifloss.
»Darf ich fragen, was das für ein dringender Termin ist, den Sie heute Nachmittag haben?«
»Es ist wegen einem meiner Söhne. Er lebt drüben und möchte raus. Ich spreche mit vielen Stellen, die ihm vielleicht helfen können.«
»Mit wem sprechen Sie?«
»Heute mit dem Roten Kreuz.«
»Wie sollen die Ihnen denn helfen?«
»Mein Sohn sagt, dass möglichst viele Bescheid wissen müssen. Es muss bekannt sein im Westen, dass es ihn gibt und dass man ihn gegen seinen Willen dort festhält. Nur dann bewegt sich was, und ihm passiert nichts.« Sie ärgert sich, dass sie sich einem Wildfremden anvertraut.
»Sie müssen an Franke schreiben, an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen in Bonn. Der Exmann meiner Schwester ist Staatssekretär in München. Vielleicht können wir da was machen, Paulina.«
»Das habe ich doch längst. Keiner antwortet. Mein Sohn sagt, ich muss es bei allen probieren.«
»Also ich weiß nicht, ob wir hier mit dem Gießkannenprinzip weiterkommen.«
Sie hat keine Ahnung, was das sein soll, dieses Gießkannenprinzip.
Ein Lied endet, und die Radiofrau von heute früh meldet sich zu Wort: »Sie ist erst siebzehn Jahre alt. Schon mit drei konnte sie Gitarre spielen, mit vier sang sie zum ersten Mal auf einer Bühne, mit fünf nahm sie Ballettunterricht. Jetzt hat sie den Grand Prix mit 161 von 204 möglichen Punkten nach Deutschland geholt. Mit einer zu Herzen gehenden Melodie und einem hoffnungsfrohen Text. Ihr bisschen Frieden wirkt in unserer angsterfüllten Zeit wie Balsam. Und seit zwei Tagen singt die ganze Welt den deutschen Friedensgruß mit.«
Vorgestern Abend hat sie die Übertragung im Fernsehen mitverfolgt. Noch vor der Abstimmung ist sie eingeschlafen. Erst als das Mädchen ihr Lied noch einmal sang, nun schon zur Siegerin gekürt, ist sie aufgewacht. In vier Sprachen sang sie, jede Fremdsprache wurde beklatscht. Sie sei nur ein Mädchen, das sage, was es fühle. Sie wisse, ihre Lieder würden nicht viel ändern. Sie sei ein Vogel im Wind, der spüre, dass der Sturm beginne.
Am Ende des Liedes dreht Hermann das Radio leiser. Längst haben sie die Kaserne und die Wohnquartiere der Soldaten hinter sich gelassen.
»Ich wusste anfangs gar nicht, dass die Amerikaner hier stationiert sind«, sagt sie zu Hermann.
»Ja, die Zupfer«, antwortet er. »Bei mir im Kino musste die Militärpolizei manches Mal dazwischengehen. Wenn die Zupfer einen über den Durst getrunken haben, führen die sich auf wie die Hottentotten. Die saufen Hefebier aus der Flasche, und dann sind sie nach der Hälfte des Films hinüber.«
Sie fahren an einer Pferdekoppel vorbei, gefolgt von einem stattlichen Haus, vor dem ein Tulpenbaum blüht. Die Blätter gleichen den Federn jenes Kakadus, der die Kurgäste in der Wandelhalle mit seinen Pfeifkonzerten unterhält. Den größten Applaus erntet er für den Marsch, der auch in der Fernsehwerbung läuft: »Komm doch mit auf den Underberg …«
»Drei Jahre lang habe ich ›Rocky‹ gezeigt,
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