Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Armee.«
Der Junge lächelt ein bisschen.
Als Frank zu Bett geht, kann er nicht einschlafen. Draußen schreien die Katzen. Hoffentlich bekommt Theo eine feurige Schönheit ab, denkt er. Auch unter den Katzen ist die Konkurrenz nicht gering, aber Theo kriegt das schon hin. Er steht auf und bügelt ein Hemd. Er zieht neue Saiten auf die Gitarre und raucht eine Zigarette. Noch einmal liest er die Anzeige und die Postkarten und schüttelt den Kopf. Schlafen kann er immer noch nicht. Er liegt im Bett unter den Büchern und beobachtet den Schlaf, der im Sessel lümmelt und nicht herbeikommt. Er nimmt ein Buch aus dem Regal. Ewig hat er das nicht getan. Es ist das Tagebuch einer Schriftstellerin. Er blättert und liest: »Und wo warst du, damals im Mai – Kirschbäume, die Landstraße unter der Sonne.« Dann kann er doch schlafen.
Am nächsten Morgen weckt er seinen Sohn: »Komm frühstücken.«
Mürrisch setzt sich Jakob an den Küchentisch: »Wo ist denn das Frühstück?«
»Im Auto.«
Von einem Moment auf den nächsten ist Jakob wach. »Wir machen doch etwa keinen Ausflug?«
»Keine Angst«, sagt Frank, »solche Ausflüge machen wir nicht mehr.« Er hofft, dass es stimmt. Ihm fällt ein Buch ein, das er vor vielen Jahren gelesen hat. Im ersten Gesang dieses uralten Buches beklagt der Dichter, vom rechten Weg abgekommen zu sein und sich in einem dunklen Wald verirrt zu haben, in der Mitte des Lebens stehend. Gefährliche Tiere lauern ihm auf, ein Wolf, ein Löwe, ein Pardel. Was ein Pardel ist, hat er nachlesen müssen. Es ist etwas geschehen: Er denkt wieder an Bücher.
»Wohin fahren wir dann?«, fragt Jakob.
»Erst mal Zweige holen«, sagt Frank.
Blassrosa blühen die Kirschbäume am Straßenrand. Frank parkt den Wagen am Graben, und die Sonne dirigiert ihr Orchester: Singvögel flöten, Bienen summen in den Bäumen, der Bach klimpert. Er hört ein Entenfagott und das Cello des Windes. Süß duften die Blüten. Er faltet die Hände und macht dem Jungen eine Räuberleiter. Die Äste sind knorpelig wie Polinas Fingergelenke. Er gibt Jakob den Fuchsschwanz. Der Junge sägt Zweige vom Baum ab und reicht sie ihm herab. Bienen fliegen auf. »Pass auf, dass du nicht gestochen wirst«, sagt Frank, »und nimm nur die schönsten.« Der Junge klettert höher in die zitternde Krone, es schneit. Die Blütenblätter bleiben auf Franks Haar und im Gesicht des Jungen haften. Frank nimmt den Fuchsschwanz zurück und hält die Arme auf. Im richtigen Moment greift er zu und zieht den Jungen an seine Brust. Er ist wohl kein Kind mehr, aber er riecht wie eines: nach Heu und Butter. Mit dem Zeigefinger tupft er ein Blütenblatt von Jakobs Lid und bläst es in die Lüfte. »Wir haben einen Wunsch frei.«
Der Junge betrachtet die Straße. Vier Radfahrer fliegen vorbei.
»Jeder ein Wunsch«, sagt Frank. »Wir müssen still wünschen, jeder für sich.« Für ein paar Herzschläge schließt er die Augen.
Er stellt sich vor, wie der vordere Radfahrer in den Wind steigt, abfällt und sich in den Windschatten des vorletzten krümmt. Früher haben Mutter und er den Friedensfahrern zugesehen. Unter tausend anderen standen sie am Straßenrand, und als die Rennfahrer wie ein bunter Zug vorbeirauschten, riefen seine Mutter und er: »Täve, Täve!«
»Man darf es doch nicht aussprechen, sonst geht es nicht in Erfüllung, oder?«, sagt Jakob.
»Man darf es schon aussprechen«, sagt Frank.
Jakob überlegt. Dann sagt er: »Dass sie mich nehmen. Bei dem Sichtungswettkampf, meine ich. Dass ich auf die Sportschule komme. Zuerst Spartakiadesieger, dann Olympiasieger. – Ist das zu viel auf einmal?«
»Nein, ist es nicht«, sagt Frank. »Es ist gut, wenn du große Wünsche hast. Hab ich auch.«
»Was ist dein Wunsch?«
Auch Frank überlegt. Dann sagt er: »Dass wir Oma bald wiedersehen.«
»Das wünsche ich mir auch«, sagt Jakob.
»Und dass du nicht wieder abhaust«, sagt Frank. Und dass ich gut zu dir bin. Und dass ich mich bitte nicht in die Frau mit den Erdbeerhaaren verliebe.
Sie fahren über Alleen und durch Dörfer. Auf den Plätzen stehen bekränzte Maibäume, Bänder flattern im Wind. Vor ihren Kasernen haben die Russen geflaggt. Im Fond liegt die Gitarre in ihrer blauen Hülle. Wenn sie über das Kopfsteinpflaster holpern, gibt sie Töne von sich. Sonst sind nur Klamotten und blühende Zweige im Gepäck, kein Fernglas, kein Alibi. Morgen wird er den Jungen ins Trainingslager fahren. Sie essen Brote und trinken Kakao.
Frank
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