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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Hürdenlaufs, die ganze wunderbare Hindernismusik: und Erde und Erde und Erde und: LUFT  – da gibt es kein Vertun, kein Trippeln oder Straucheln mehr, höchstens an der letzten, der sechsten Hürde, die darf umgetreten werden, aber nur, wenn der Auslauf (elf Meter) kompakt bleibt, so kompakt wie der Anlauf (elf Meter fünfzig).
    Das hat er verstanden und gelernt. Zum Lohn bekam er weiß-blaue Spikes, rote Regenkleidung und orangefarbene Dragees (nur Vitamine). Im dritten Jahr wurde irgendein Knöchelchen seines Fußes vermessen, und die Sportärztin sagte ihm, wie groß er einmal werden würde. Zum ersten Mal hörte er die Worte »Lungenvolumen« und »Körperfett«. Alles schien mit ihm zu stimmen, und so übernahm ihn der Trainer ins Trainingszentrum. Er hielt eine Namensliste in der Hand und sagte: »Künftig legen wir auf folgende Kinder wert«, und dann fiel auch sein Name. Von nun an trainierte er viermal in der Woche, auch wenn sein Knie zickte. Er fuhr zu Wettkämpfen in andere Städte und einmal sogar in ein unbekanntes Land, ein Bruderland, da aß er was Scharfes und verbrüderte sich lediglich mit der Kloschüssel. Weil er mit elf Jahren außergewöhnlich weit sprang, schickte ihm der Obermufti eine Urkunde. Er solle weiter siegen, für sein Kollektiv und sein Land. Er sagte es keinem, aber er siegte für sich. Wenn ihm ein Sprung, ein Hürdenlauf gelang, dann war dies das Glück. Und dann legte der Trainer Wert auf ihn.
    Weil er will, dass der Trainer auch weiterhin Wert auf ihn legt, nimmt er die 21 und heftet sie wieder an sein Trikot. Er schnürt seine Spikes, geht klackend hinaus und sammelt seine auf der Bahn liegende Zeit ein: neun Komma neun Sekunden, eine Bestzeit aus Erde und Luft.
    »Menschenskinder«, sagt der Trainer wütend, »du bist nur schnell, wenn man dir Hindernisse in den Weg stellt.«
    Bevor Bob Beamon in die Unsterblichkeit sprang, hatten die Götter alles für ihn bereitet: Ein gerade noch erlaubter Rückenwind würde ihn durch die Höhenluft von Mexico City tragen, nachdem er über die neue festfedernde Kunststoffbahn des olympischen Stadions gesprintet war und sich vom Balken mit dem nachsichtigen Plastilin in die Höhe geschraubt hatte. Das Staunen im Rund, auch dies ein höherer Zauber, würde ihn mindestens im selben Maß wie der Rückenwind oder die dünne Luft tragen. Bob Beamon musste nur eines tun: sich dem Willen der Götter ergeben und ihre Gaben demütig entgegennehmen. Denn manchmal liegt etwas in der Luft, das man nur erkennen und dann annehmen muss.
    Nichts anderes tat der Negerjunge aus Queens, New York. Mit gesenktem Haupt stand er am Anlauf, tief entspannt und ruhig und bereit zu empfangen. Dann lief er los, und sein erster Schritt war pure Energie. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen, diesen Riss zwischen Gebet und Drang, diesen Bruch zwischen Ergebenheit und Kampf. Das war das eigentliche Wunder dieses Sprungs, die Sensation vor der Sensation. Beamon sprang und vollzog bloß noch die Prophezeiung, sechs Sekunden lang segelnd.
    Nach seiner Landung entlud sich der göttliche Starkstrom: Zappelnd und schlenkernd und den Hals reckend, trabte er an der Grube vorbei, nur ein Stempel, der einen Abdruck ehrgeizigster Schönheit im Sand von Mexico City hinterlassen hatte, sichtbar für die kurze und doch lange Spanne von fünfzehn Minuten. Wer Augen hatte, konnte sehen, ob im Stadion oder vorm Fernseher, selbst wenn es sich um ein russisches Modell handelte, das jeden Moment zu verglühen drohte.
    Fünfzehn geschlagene Minuten mussten Beamon und die Welt warten, bis ein Maßband herbeigeholt und die Weite ermittelt war. Denn der Abdruck lag jenseits, das neumodische Messgerät konnte ihn nicht erfassen. Als dann die Weite verkündet wurde, acht Meter neunzig, wusste Beamon nichts damit anzufangen. Das metrische System war ihm ein Rätsel, das Summen und Raunen im Stadion babylonisch.
    Schließlich sagte ihm jemand, was acht Meter neunzig in Fuß und Inches waren, nämlich nahezu dreißig Fuß. Beamon verstand, dass er den bisherigen Weltrekord um fast zwei Fuß übertroffen hatte. Ein Ozean lag zwischen der alten Weite und der neuen. Schon Jesse Owens war 1935 acht dreizehn gesprungen, alle Guten sprangen irgendwann dorthin oder ein kleines Stückchen weiter, nur Beamon hatte es weit darüber hinaus getragen, in ein unbekanntes Land, das bis zum heutigen Tag kein anderer Mensch außer ihm betreten hatte.
    All das muss Beamon vage begriffen haben, denn sobald er

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