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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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solchem Stimmchen und solchem Gesichtchen hätte sie die Multiplikationstabelle hersagen können, und die Begeisterung des anderen Geschlechts wäre ihr sicher gewesen.
    »Ich habe sie wieder gesehen, die Schwarzen Tücher!«
    »Was sagst du da?« Lukow schlug nach Weiberart die Hände zusammen. »Wie? Wo? Haben sie dir auch nichts getan?«
    »Lass mich ausreden!« Das Mädchen gab dem Vorsitzenden spielerisch einen Klaps auf die Hand. »Ich bin am Morgen zum Bach gegangen, um Blumen zu pflücken. Plötzlich ist mir’s eiskalt den Rücken runtergelaufen. Ich dreh mich um, und da gucken mich von der andern Seite aus dem Gebüsch zwei Männer an! Mit schwarzen Gesichtern! Da bin ich vielleicht losgerannt, bis zum Dorf, ohne Besinnung, sogar einen Schuh hab ich verloren, den aus Saffian, den du voriges Jahr aus der Kreisstadt mitgebracht hast. Zum Glück ist Mischa kein Angsthase und hat ihn später geholt.« Ohne die Finger von Lukows Hand zu nehmen, streichelte sie dem jungen Mann, der zu ihrer Rechten saß, die Schulter, guckte aber woanders hin.
    »Mich sieht sie an«, flüsterte Masa und wandte der Schönen das Profil zu, damit sie sich daran freuen konnte.
    Nicht dich, sondern mich, wollte Fandorin sagen, doch er schwieg.
    »Ach nein, Blumen pflücken am Morgen«, zischte eine Frau, die in der Nähe saß. »Wir andern arbeiten alle auf dem Feld, und Nastja geht spazieren.«
    Ein bejahrter Siedler in einer vorsintflutlichen Uniform mit den Schulterklappen eines Fähnrichs und der Medaille »Für die Unterwerfung Tschetscheniens und Dagestans« erhob sich, um einen Toast auszubringen.
    »Liebe Freunde! Heute, am zweiundachtzigsten Jahrestag der Schlacht bei Borodino, möchte ich mein Glas mit Met erheben auf den Ruhm der russischen Waffen! Die Amerikaner haben noch nie einen Sieg errungen, außer den über die unglücklichen Mexikaner, aber wir haben sogar Napoleon bezwungen! Auf unser großes Vaterland!«
    Und er schmetterte mit klirrender Stimme: »Siegesdonner, laut erschalle, und nun freu dich, kühner Russ!«
    Mehrere fielen gefühlvoll ein, aber nicht alle.
    Die Bucklige zum Beispiel, die keinen Moment zum Sitzen kam und dafür sorgte, dass Fandorin und Masa immer was auf dem Teller hatten, sang nicht mit.
    »Borodino, das ist lange her«, bemerkte sie bissig. »Es wär an der Zeit, wieder mal jemanden zu besiegen, ist ja peinlich.«
    Sie liest gern Tschechow, erinnerte sich Fandorin mit einem Blick in ihr kluges, schmallippiges Gesicht.
    »E-Erlauben Sie, und der türkische Feldzug?«
    »Da hat der Scheele den Blinden besiegt und selber ein Auge verloren.«
    Fandorin dachte genauso über den Balkankrieg und widersprach ihr nicht.
    »Essen Sie, essen Sie«, nötigte ihn Jewdokia. »Ich habe alles selber zubereitet. Ich bin hier eine Art ›Olivier‹. Wie ich gelesen habe, gibt es in Moskau ein berühmtes Restaurant, das so heißt. Wird da gut gekocht?«
    »Früher mal. In den letzten Jahren geht man da weniger hin, um zu speisen, als vielmehr …« er suchte nach dem richtigen Ausdruck »… um sich zu amüsieren. Da sind jetzt oben intime Zimmer.«
    »Keine schlechte Idee«, sagte lachend Jewdokia, die nicht zur Prüderie neigte. »Die Männer werden angelockt mit dem Gefieder und festgehalten mit dem Futter. Das hab ich immer schon gewusst, darum hab ich Köchin gelernt. Bevor unsere Nastja« – sie nickte zu der Schönen mit dem roten Tuch hin – »in das Alter kam, hatte ich die meisten Männer bei mir.«
    Das Gespräch, das eben eine interessante Richtung nahm, brach an dieser Stelle ab, denn eine dicke Dame mit bestickter Bauernbluse und Kneifer setzte sich zu Fandorin.
    »Aus welchem Staat sind Sie hierher zu uns gekommen?«, fragte sie, vergeblich um volkstümliche Umgangssprache bemüht.
    »Aus Boston.«
    »Gibt’s da viele von den Unsern?«
    »Russen? Fast gar keine.«
    »Sie leben also unter lauter Amerikanern?« Sie seufzte mitfühlend. »Sind Sie schon lange weg aus Russland?«
    »Das vierte Jahr. Aber von Zeit zu Zeit fahre ich hin.«
    Die Dicke wurde lebhaft.
    »Und, ist es dort schlimm? Hunger, Armut?«
    Fandorin beurteilte die Situation in der Heimat pessimistisch, aber damit mochte er seine Gesprächspartnerin nicht erfreuen.
    »Nicht doch! Die Zeitungen schreiben, dass die Industrie wächst und der Rubel sich erholt. Armut gibt es noch, aber die Hungerzeiten sind vorbei.«
    »Und das glauben Sie? Ist doch Propaganda.« Die Dame zog verächtlich das Gesicht schief. »Als ob in Russland

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