Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
Kalender ist heute der sechsundzwanzigste August. Der Tag von Borodino 8 . Da gibt es ein Festessen, Gesang und Tanz. Was denn sonst? Es war ein Triumph der russischen Waffen.«
    Und richtig, der schwache Wind trug aus der Ferne Musikklänge herbei – Geigen, Trompeten, Harmonikas. Da wurde offenbar der Marsch des Preobrashenskojer Regiments gespielt – überraschendes Repertoire für Emigranten und Gewaltlose.
    Der Vorsitzende führte die Gäste an schmucken Doppelhäusern vorbei.
    »Hier haben wir den Kindergarten, wo die Kleinen erzogen werden«, erzählte er stolz. »Alle Kinderchen zusammen wie Radieschen im Beet, daher der Name Garten. Familiäre Tyrannei gibt es nicht, alle sind gleich. So viele Erwachsene – so viele Eltern. Dort ist die Schule, bei uns lernen Jungen und Mädchen zusammen. Dort ist die Leitung. Und dort zwei Männerwohnheime.«
    Hinter einem großen Gebäude mit dem Schild »Haus der Freizeit« tönte Gesang. Der Chor aus Männer-, Frauen- und Kinderstimmen sang sehr harmonisch das Lied vom Knüppelchen.
    »Unsere Leute sind sämtlich auf dem Dorfplatz und feiern«,erklärte der Vorsitzende. »Herzlich willkommen! Da werden sich alle freuen!«
    Masa ging auf Erkundung, Fandorin folgte Lukow.

    Auf dem kleinen Platz, an Tischen, die zu einem offenen Rechteck zusammengestellt waren, saßen etliche Dutzend Menschen, auf den ersten Blick gewöhnliche russische Bauern, etwas herausgeputzt aus dem feierlichen Anlass. Die Frauen trugen weiße oder bunte Tücher, die Männer waren bärtig und hatten das Haar rundgeschnitten. Doch bei genauerem Hinsehen wirkten die Bauern ein wenig seltsam. Viele trugen Brille oder Kneifer, und die Gesichter waren zumeist schmal und durchgeistigt, woran man in Russland unweigerlich den Intellektuellen erkennt, selbst wenn er in Bastschuhen und Bauernrock herumläuft.
    Der Gesang schloss mit einem lauten »Uch«, und alle wandten sich zu dem Vorsitzenden und dem Fremden im schmutzigen Anzug und in Cowboystiefeln.
    »Brüder und Schwestern! Ich lege ihn euch ans Herz: Erast Petrowitsch Fandorin, einer von uns, ein Russe. Unser Wohltäter, der Colonel Mawriki Christoforowitsch Starowosdwishenski, hat ihn zu uns gesandt als Schutz und Schirm. Bitte, lieber Gast, nehmen Sie Platz am Tisch. Stärken Sie sich nach der Reise, ruhen Sie sich aus. Jewdokia wird sich um Sie kümmern.«
    Ein flinkes buckliges Frauchen mit Watschelgang (dem Namen nach wohl die Fleißige mit der großen
Arbeitsleistung
) platzierte Fandorin an den Haupttisch, legte ihm Piroggen, gesäuerten Kohl und Pelmeni auf den Teller und stellte einen Becher Kwass daneben. In den Jahren seines Exils war Fandorin aller dieser herrlichen Speisen entwöhnt und konnte es kaum erwarten, dass Jewdokia ihm aus einem Krug Wasser über die Hände goss. Er trocknete sich mit einem Leinentuch ab, auf das Hähne gestickt waren, und machte sich über das Essen her.
    Es gab auch Spanferkel mit Meerrettich, Sülze und kalte grüne Kohlsuppe, nicht schlechter zubereitet als im berühmten Moskauer Gasthaus von Iwan Testow.
    Masa, der neben ihm saß, hatte einen Korb mit seinen geliebten Mohnkringeln entdeckt, zog ihn zu sich heran und verputzte gleich zehn Stück, dann lehnte er sich zurück und ließ die Äuglein über die Gesichter der Frauen wandern.
    Frauen gab es hier viel weniger als Männer. Die Ältesten waren wohl um die fünfzig, aber da waren auch ganz junge.
    »Ach, wie schön!« sagte der Kammerdiener auf japanisch.
    Das junge Mädchen mit dem roten Kopftuch war Fandorin auch schon aufgefallen. Der Blick blieb ganz von selbst an ihr haften. Frisches, lebhaftes Gesicht, perlendes Lachen, strahlende schwarze Augen – unter den faden Siedlerinnen wirkte die Schöne wie eine leuchtende Blume im vergilbten Gras. Links von ihr saß Lukow. »Oi, Kusma«, rief sie schallend, »du weißt ja gar nicht, was mir heute passiert ist! Schrecklich!«
    Die Mitglieder der Gemeinschaft redeten einander unabhängig vom Alter alle mit Du an, das hatte Fandorin schon bemerkt, darum wunderte er sich jetzt nicht. Erstaunlich war etwas anderes – Lukows Reaktion. Er ächzte auf und griff sich ans Herz.
    »Was war denn, Nastja? Mach mir keine Angst!«
    Sein Schreck war aufrichtig.
    Die rosige Nastja wandte sich lachend den anderen Nachbarn zu, die nur Männer waren.
    »Euch hab ich’s schon hundertmal erzählt, darf ich noch mal?«
    Alle versicherten ihr einstimmig, die Geschichte gern noch einmal hören zu wollen. Und ob! Mit

Weitere Kostenlose Bücher