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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sich um, auf den Ruf oder das Getrappel hin, sah das auf ihn zu sprengende Gespenst und erstarrte.
    »Nicht stehen bleiben! Schmeiß die Schale hin und lauf!«, schrie Reid mit überkippender Stimme.
    Der Apostel wollte zurück, aber der Kopflose schnitt ihm den Weg zum Wäldchen ab. Da lief Moroni geradeaus weiter, hielt aber die Schale noch immer vor sich. Die Muskete mit der Silberkugel hatte er wohl vergessen.
    Fandorin stürzte zu seinem Pferd und riss die Büchse aus dem Futteral.
    Der Neger fiel ihm in den Arm.
    »Was soll das? Sind Sie verrückt?«
    Es war auch gar keine Zeit mehr zu zielen.
    Moroni rannte bis zu dem Baum, doch er war dem Kopflosen nur wenige Augenblicke voraus. Er drehte sich um, hob die Schale über den Kopf, ertrug jedoch den grausigen Anblick nicht – wich ein paar Schritte zurück, wankte und stürzte mit seiner Last in den Abgrund.
    Fandorin und Reid schrien auf.
    Am Rande des Canyons riss der unheimliche Reiter sein geschecktes Pferd hoch und herum. Wie ein schwarzer Schatten sprengte er an der Schlucht entlang und verschwand im Nebel.
    »Er wollte den Kopf holen«, lispelte Reid. »Wenn Sie geschossen hätten, wär das unser Ende gewesen.«
    Fandorin stieß ihn zurück und lief zum Baum.
    Hinter den Berggipfeln hervor floss rosiges Licht, der Nebel löste sich zusehends auf.
    Aber am Grunde des Canyons hielt sich noch die Dunkelheit. Fandorin beugte sich vor und starrte lange hinunter, doch den Körper des unglücklichen Moroni konnte er nicht sehen. Irgendwo tief drunten rauschte schnell fließendes Wasser.
    Washington Reid stand etwas abseits. An den Baum traute er sich nicht heran.
    »Was sagen Sie zu den Spuren hier?«, fragte ihn Fandorin und zeigte auf die deutlichen Hufabdrücke.
    Reid kam vorsichtig näher und spuckte sicherheitshalber über die Schulter.
    »Hufnägel mit Vierkantköpfen?«, sagte er. »Damit haben im Krieg die Dakotakrieger ihre Pferde beschlagen. Gehen wir, ja?«
    »Seit wann beschlagen die Indianer ihre Pferde?«, fragte Fandorin verwundert.
    Aber das mochte der Alteingesessene besser wissen.
    Die Hufspuren führten längs des Canyons, verschwanden aber dann auf felsigem Boden. Wäre Melvin Scott hier gewesen, so hätten sie wohl die Suche fortsetzen können, doch Reid brachte wenig Nutzen. Er trottete auf seiner Peggy hinterher und redete andauernd von Umkehr.
    Fandorin musste schließlich aufgeben.
    »Jetzt ist Rasis Apostel, mit ihm werden wir’s leichter haben als mit Moroni«, sagte er, als sie auf das sperrangelweit offene Tor zu ritten. »Wir werden den Toten aus dem Canyon holen müssen und natürlich auch den Kopf. Wenn das Wasser ihn nicht weggetragen hat. Morgen in aller Frühe werden wir das Experiment wiederholen. Ich selbst werde mich damit besch-schäftigen. Und heute besuche ich die Schwarzen Tücher. Die Celestianer werden mir helfen. Auch Sie sollten sich uns anschließen. Ein erfahrener Helfer kann nicht schaden. Ich zahle Ihnen die dreifache Taxe, so wie Mr. Scott: fünfzehn Dollar am Tag.«
    »Gemacht«, stimmte Reid leichthin zu.
    Je höher die Sonne stieg und der Abstand zum Snake Canyon sich vergrößerte, desto mehr heiterte er sich auf.
    »Wo stecken die denn alle? Ob sie sich vor Angst unter den Betten verkrochen haben?« Reid zeigte lächelnd die weißen Zähne.
    Tatsächlich, im Hof der Festung war keine Menschenseele.
    Die Haustüren standen offen, da und dort lagen überraschende Gegenstände herum, die gemeinhin nicht auf der Erde liegen: ein Kinderhäubchen, ein Hut mit konischem Oberteil, eine Kasserolle, ein abgewetztes Gebetbuch.
    Keine Stimme war zu hören, aber aus den Rinderställen drang langgedehntes verständnisloses Muhen.
    »Sie sind abgehauen!«, ächzte Reid, sprang vom Pferd und stürmte in das erste Haus.
    Gleich darauf guckte er aus dem Fenster.
    »Sie haben alles stehen- und liegenlassen und sind weg! Wegen dem Kopflosen! Das ist ein Ding! Ein ganzes Mormonendorf hat er verscheucht!«
    Sie durchsuchten die gesamte Siedlung und entdeckten überall die Spuren eiliger Flucht. Öfen qualmten, auf einem Herd zischte übergekochte Milch. In einem der Häuser schwebten Daunen aus einem aufgeschlitzten Oberbett, in dem wohl etwas Wertvolles versteckt gewesen war.
    »Wer kriegt jetzt die ganze Habe?« Reid sah sich um.
    Die verlassenen Behausungen ängstigten ihn. Es war auch ein bedrückender Anblick.
    »Wahrscheinlich niemand«, antwortete der Schwarze sich selbst. »Nach der schrecklichen Geschichte wird kaum

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