Das Handwerk des Toetens
ankämpfen, daß sie auf einmal genauso dasaß, wie sie in ein paar Jahren dasitzen würde, reglos und ohne sich zu wehren.
Auch wenn es keinen Zweifel daran gab, schien Paul nicht wahrzunehmen, daß es eine Aufforderung war, zu gehen, bis wir schließlich doch draußen auf der Straße standen und ich nur automatisch nickte, als er darauf zu sprechen kam, was für ungeahnte Möglichkeiten sich plötzlich für seinen Plot ergaben.
»Ich hätte mich kaum zu erfinden getraut, daß sich die beiden noch einmal getroffen haben«, sagte er, ohne zu merken, wie sehr er sich schon wieder von jeder Realität entfernt hatte. »Um so unglaublicher kommt es mir vor, daß es geschehen ist.«
Obwohl ich spürte, wie er mich fragend ansah, schaute ich hinauf zu den Fenstern von Isabellas Wohnung. Dort ging gerade Licht an, und ich hörte ihm nicht richtig zu und stellte mir vor, wie sie das Tablett mit den Teetassen und die Schnapsgläser wegräumte und dann einen Raum nach dem anderen betrat, wie um sich zu vergewissern, daß sie allein war. Es konnten noch keine drei Minuten vergangen sein, seit sie ihm und dann mir vor dem Eingang wortlos die Hand gegeben hatte, und doch war sie schon wieder in ihrem Leben, ließ vielleicht gerade die Badewanne vollaufen oder telephonierte mit einer Freundin, während wir dastanden, als müßten wir uns erst ausdenken, was wir tun wollten, er in einem fort redend, ich ohne etwas zu sagen.
Ich wollte mir das Hin und Her ersparen, in das jede Verabschiedung mit ihm ausarten konnte, und machte es kurz, schnitt ihm das Wort ab und brach auf, ohne es für möglich zu halten, daß wir uns so bald wiedersehen sollten. Ich wußte, daß er am Morgen darauf mit Helena nach Tirol fahren würde, zu sich nach Hause, und obwohl er mich eingeladen hatte, nachzukommen, hielt ich es beim Weggehen für besser, die nächsten Tage allein zu verbringen. Als er hinter mir herrief, wartete ich eine Weile, bevor ich mich umdrehte, und sah ihn dann nur mehr in die Gegenrichtung davonhinken, froh, ihm so leicht entronnen zu sein, aber zwei oder drei Tage später hatte ich das alles schon wieder vergessen, es war Silvester, und ich packte früh am Morgen eilig ein paar Sachen zusammen und befand mich bereits auf der Autobahn, als mir klar wurde, wohin ich unterwegs war.
Ich dachte immer, ich wäre gefeit dagegen, aber ich hatte mich zu guter Letzt von der Aufregung über das so lange herbeitrompetete neue Jahrtausend doch noch anstecken lassen, und als ich am Nachmittag in dem Dorf ankam, sah ich auf den ersten Blick, daß auch mit Helena und Paul etwas nicht stimmte. Sie war anders als das letzte Mal, überhaupt nicht mehr abweisend, im Gegenteil, umarmte mich sogar, und er gab sich herzlich, war zuvorkommend und spielte den umsichtigen Gastgeber, aber ich wäre am liebsten gleich wieder verschwunden, so aufgehoben hatte ich mich im Auto gefühlt, wollte augenblicklich weg, als ich merkte, daß sie gerade Streit gehabt haben mußten. Ob es etwas mit ihren Erwartungen zu tun hatte oder nicht, sie hätten es ohne Zweifel kaum schlechter treffen können, als ausgerechnet dorthin zu fahren, wo sie sich vor so langer Zeit kennengelernt hatten, aber ich wußte nicht, wie ich ihnen helfen sollte, und hörte mir selbst hilflos ihre Geschichten an, die ich zum Teil schon kannte, Anekdoten, von ihm mit einem nur schwer erträglichen Pathos vorgebracht, wie er sie zum ersten Mal geküßt hatte oder mit ihr in ein Schneetreiben geraten war, oder auch nur zur Kirche gegangen, um ihr das Grab seines Vaters zu zeigen, oder hinter dem Altar, was er dort entdeckt hatte, einen Totenschädel, wo jetzt nur mehr ein purpurner Klingelbeutel an einem langen Stiel zu finden war und ein paar vergessene Engelsfiguren vor sich hin verstaubten.
Er konnte sagen, was er wollte, es half nichts, jedes Wort war umsonst, und erst als er sich zurückzog und ich mit Helena allein die Straße talauswärts spazierte, verstand ich etwas von dem Zauber, den er vergeblich beschworen hatte, und trabte mit geschlossenen Augen neben ihr her, versuchte, die Orientierung zu behalten, indem ich sie von Zeit zu Zeit berührte, und lauschte nur auf das Geräusch unserer Schritte.
»Ich wünschte, wir könnten stundenlang so dahingehen«, sagte ich, kaum daß wir aufgebrochen waren. »Es wäre mir am liebsten, wenn uns Mitternacht irgendwo in der Finsternis überraschen würde.«
Das hätte dem größten Narren zur Ehre gereicht, aber sie nahm für ein paar
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