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Das Harvard-Konzept

Das Harvard-Konzept

Titel: Das Harvard-Konzept Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Fisher
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ist – die Wahlmöglichkeiten scheinen begrenzt.
    Das Beispiel der Sinai-Verhandlungen macht nun die möglichen Chancen klar. Ein fantasievoller Ausweg, wie der vom entmilitarisierten Sinai, schafft oft den entscheidenden Unterschied zwischen Scheitern und Übereinkommen. Ein mit uns befreundeter Rechtsanwalt führt seine Erfolge unmittelbar auf seine Fähigkeit zurück, |90| Lösungen zu finden, die sowohl für seine Klienten als auch für die Gegenseite vorteilhaft sind. In gewisser Weise vergrößert er den Kuchen, ehe er ihn teilt. Gewandtheit bei der Entwicklung von Wahlmöglichkeiten gehört zu den nützlichsten Attributen eines erfolgreich Verhandelnden.
    Allzu oft geht es Verhandlungspartnern jedoch so wie den beiden sprichwörtlichen Schwestern, die über eine Orange stritten. Nachdem sie schließlich übereingekommen waren, die Frucht zu halbieren, nahm die erste ihre Hälfte, aß das Fleisch und warf die Schale weg; die andere warf stattdessen das Innere weg und benutzte die Schale, weil sie nämlich lediglich einen Kuchen backen wollte. Allzu oft lassen die Verhandlungspartner sozusagen »Geld auf dem Tisch liegen« – sie kommen zu keiner Übereinstimmung, oder die Übereinstimmung hätte für alle Seiten besser aussehen können. Viel zu viele Verhandlungen enden mit der halben Orange für jede Seite anstatt der ganzen Frucht für die eine und der ganzen Schale für die andere. Warum?
    Diagnose
    Obwohl es nützlich ist, wenn verschiedene Wahlmöglichkeiten bestehen, sehen nur wenige Menschen in Verhandlungen die Notwendigkeit dazu ein. Bei einer Auseinandersetzung glauben die Leute meist, dass sie die richtige Antwort schon kennen, und wollen, dass ihre Sicht der Dinge die Oberhand behält. Bei Vertragsverhandlungen glauben alle, dass ihr Angebot vernünftig ist und angenommen werden sollte, eventuell mit einer kleinen Korrektur. Alle brauchbaren Antworten scheinen dabei auf einer geraden Linie zwischen der Position der Gegenseite und ihrer eigenen zu liegen. Der einzige kreative Weg, der dabei dann mitunter aufscheint, besteht darin, die Differenz zu halbieren.
    Bei den meisten Verhandlungen zeigen sich vier Haupthindernisse |91| hinsichtlich der Entwicklung einer Vielfalt von Entscheidungsmöglichkeiten: 1. vorschnelles Urteil, 2. Suche nach »der« richtigen Lösung, 3. die Annahme, dass der »Kuchen« begrenzt sei, 4. die Vorstellung, dass die anderen ihre Probleme gefälligst selbst lösen sollen. Damit man solche Sperren überwinden kann, muss man sie zuerst verstehen.
    Vorschnelles Urteil
    Die Entwicklung von Wahlmöglichkeiten kommt nicht von selbst.
Nicht
entwicklung von Optionen ist, auch wenn Stress dabei keine Rolle spielt, der Normalfall. Wenn Sie gefragt werden, wer als Einziger in der Welt den Friedensnobelpreis verdient, sind bei jeder Antwort, die Sie auch geben mögen, wohl auch Ihre Zweifel und Unsicherheiten miteingeschlossen. Wie können Sie sicher sein, dass diese Person den Preis
am meisten
verdient? Vielleicht fällt Ihnen gar niemand ein, oder Sie geben mehrere Antworten, die herkömmlicherweise üblich sind: »Der Papst oder der Präsident.«
    Nichts schadet der Erfindungskraft so sehr wie kritischer Sinn, der nur darauf wartet, die Kehrseite jeder neuen Idee vorzuführen. Urteile behindern den Einfallsreichtum.
    Unter dem Druck einer bevorstehenden Verhandlung ist Ihr kritischer Sinn oft noch mehr geschärft als sonst. Praktische Verhandlungsführung besteht in praktischem Denken und nicht in der Produktion wilder Gedanken.
    Oft schränkt auch die Anwesenheit der »Gegenseite« die Kreativität ein. Sie verhandeln zum Beispiel mit Ihrem Chef über das Gehalt im kommenden Jahr. Sie haben eine Erhöhung von monatlich 800 Euro vorgeschlagen, er hat 300 Euro angeboten – was Sie als unzureichend bezeichnet haben. In einer derart gespannten Situation können Sie kaum den Einfallsreichtum für eine entsprechende Lösung entwickeln. Sie fürchten etwa, dass Sie als Trottel dastehen, wenn Sie irgendeine unausgegorene Idee präsentieren, zum Beispiel |92| die Hälfte als Gehaltserhöhung und die andere Hälfte als Sonderzulagen auszuweisen. Ihr Chef sagt vielleicht: »Seien Sie nicht kindisch. Sie wissen doch genau, dass das nicht geht. Es brächte unsere ganze Firma durcheinander. Ich bin überrascht, dass gerade Sie so etwas vorschlagen.« Wenn Sie spontan eine realistische Möglichkeit vorschlagen, etwa eine progressive Gehaltserhöhung im Laufe der Zeit, wird er das eventuell als

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