Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Wenzel von Böhmen ist mein Vetter. Seine Mutter ist eine Schwester meines Vaters. Sie heißt Dragomira, nebenbei bemerkt.«
»Warum in aller Welt hast du mir das nicht eher erzählt? Es wäre ein Grund mehr gewesen, deinen Bruder mitzunehmen.«
Sie hob kurz die Schultern und antwortete nicht gleich. Derzeit dachte Dragomira nicht besonders gern an Tugomir. Er zürnte ihr wegen des Kindes, das sie trug, obwohl er ganz genau wusste, dass es nicht ihre Schuld war. Von allen Männern ihrer Familie war Tugomir immer der einzige gewesen, der sie nie beargwöhnt und auf Anzeichen ihres »schlechten Blutes« gelauert hatte. Im Gegenteil, er hatte sie immer gern gehabt, und manchmal, wenn Bolilut sich wieder zum Narren machte oder etwas besonders Dummes sagte, dann hatten Tugomir und Dragomira einen Blick getauscht, die Augen verdreht, die Hand vor den Mund gelegt, um ihr Lächeln zu verbergen, und in solchen Momenten waren sie sich nahe gewesen. Aber jetzt begegnete Tugomir ihr mit eisiger Distanz.
»Für ihn war es auf jeden Fall besser, dass dein Vater ihn mit mir zusammen hierhergeschickt hat«, sagte sie. »Er … wie sagt man bei euch? Sein Gemüt ist verdüstert, seit ihr die Daleminzer abgeschlachtet habt.«
Ottos Blick ergriff vor ihrem die Flucht. »Du meine Güte … Sprichst du die Dinge immer so unumwunden aus?«
»Nein. Nur bei Menschen, die mir keine Angst machen. So wie du, mein flachshaariger Prinz. Und es ehrt dich, dass du dich für das Massaker an den Daleminzern schämst.«
Er sah sie wieder an, schaute ihr direkt in die Augen, und mit einem Mal war sein Blick unerbittlich. »Du täuschst dich, Dragomira. Es war abscheulich. Aber es musste sein. Darum schäme ich mich nicht.«
Sie war nicht sicher, ob sie ihm glaubte. Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht glauben, denn die Daleminzer gehörten zu ihrem Volk, und wie sollte sie annehmen, dass er sie auch nur ein klein wenig gern hatte, wenn er ihrem Volk gegenüber so kalt und gleichgültig war?
Ehe sie entschieden hatte, was sie erwidern sollte, winkte Otto eine Magd herbei, die mit einem Melkeimer auf dem Weg zum Stall zu sein schien. »Bring mir einen Krug Met und irgendetwas Gutes, Mädchen. Ein paar Erdbeeren wären nicht schlecht.«
Dragomira wiederholte die Bitte auf Slawisch, und das Mädchen nickte, wandte sich ab und rannte davon, als sei es auf der Flucht.
»Eine von ihnen?«, fragte der Prinz.
»Ja. Sie muss zwölf oder dreizehn sein. Sie kann von Glück sagen, dass sie noch lebt. Gero hätte sie ebenso gut zu den Frauen stellen können.«
»Tja …«, machte er ausweichend, drückte die Hände ins Kreuz und reckte sich dabei. »Herrje, wir sind seit drei Tagen zurück, aber die zwei Monate im Sattel spür ich immer noch.«
Sie schnalzte mitfühlend und spöttisch zugleich mit der Zunge. »Lass das lieber nicht deinen großen Bruder hören.«
Er hob abwehrend beide Hände. »Oh Gott, Thankmar … Er ist grässlicher Laune. Vater und er haben auf dem ganzen Weg nach Prag und zurück immer nur gestritten.«
»Worüber?«
»Gute Frage. Über Politik. Über … die Verteilung von Verantwortung und Aufgaben. Nach der Niederwerfung der Daleminzer hat Vater befohlen, unweit ihrer Dörfer an der Elbe eine starke Burg zu bauen, um in Zukunft ein Auge auf die Slawen im Elbtal zu haben. Thankmar hat sich offenbar vorgestellt, er werde diese Burg bauen und die Garnison befehligen. Aber Vater war dagegen. Er wollte erfahrenere Männer dafür. Thankmar war wütend.«
Das konnte Dragomira sich gut vorstellen. Sie beobachtete die königliche Familie nur aus der Distanz, denn niemand außer Otto kam im Traum darauf, sie zu beachten, doch sie hatte schon so manches Mal gedacht, dass es unklug von König Heinrich war, seinen Zweitgeborenen so unübersehbar zu bevorzugen und den Ältesten ständig zurückzusetzen. Sie äußerte sich indessen nicht dazu. Ihr konnte es schließlich nur recht sein, wenn die Sachsen sich gegenseitig an die Kehle gingen. Trotzdem kam sie nicht umhin zu sagen: »Hüte dich vor Thankmar, Otto.«
Der Prinz legte einen Arm um ihre Schulter. »Oh, er ist kein übler Kerl, weißt du. Er kann sehr großzügig sein. Als ich ein Bengel war, hat er mich reiten und fechten gelehrt, immer geduldig, immer darauf bedacht, mir zu helfen, meine Technik zu verbessern. Wenn du es genau wissen willst, war er mir ein langmütigerer großer Bruder, als ich es je für Henning und Brun bin. Thankmar ist manchmal scharfzüngig
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