Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Innenraum stockfinster vor. Er blieb stehen, als habe ein Fluch ihn plötzlich in Stein verwandelt.
Der Junge, der einen Schritt hinter ihm gefolgt war, rannte ihn beinah über den Haufen. »Was ist?«, fragte er verwirrt. Die helle Kinderstimme hallte in dem höhlenartigen Raum, und fast kam es Tugomir vor, als erahne er Schatten, die davonhuschten.
»Schsch«, machte er gedämpft. »Hat dir niemand beigebracht, dass man einen Tempel, dessen Götter man nicht kennt, mit Vorsicht betritt?«
»Doch«, räumte Semela ein. Er sprach jetzt leiser, klang indessen immer noch unbekümmert. »Aber was kann uns ein fremder Gott schon anhaben?«
»Wenn ich dir das sagte, würde dir das Blut in den Adern gefrieren«, gab Tugomir zurück. Seine Augen hatten sich auf das Dämmerlicht eingestellt, und er setzte sich wieder in Bewegung.
»Wieso? Was denn?«, wollte der Junge wissen und sah gespannt zu ihm hoch, während er neben ihm einherlief. »Erzähl schon!«
Tugomir musste grinsen. »Deine Verwegenheit wird nur noch von deiner Neugier übertroffen, scheint mir. Jetzt sei still. Ich muss herausfinden, was es mit diesem Gott auf sich hat.«
Semela verstummte folgsam. Tugomir hatte allerdings wenig Hoffnung, dass das Schweigen von Dauer sein würde.
Die Nacht, nachdem die Sachsen die Daleminzer abgeschlachtet hatten, hatte Tugomir auf Geros Befehl hin an einen Baum gekettet im Freien verbracht. Eine eisige, aber sternklare Winternacht war es gewesen, und Tugomir hatte im gefrorenen Schlamm gekniet und zum Firmament hinaufgestarrt, weil er wissen wollte, ob der Tod so vieler Menschen, das Verlöschen so vieler Sterne den Himmel irgendwie verändert hatte. Doch der sah aus wie immer. Das hatte Tugomir wütend gemacht. Wie konnte es sein, dass solch eine Gräueltat ohne sichtbare Spuren blieb? Und er war nicht umhingekommen, sich zu fragen, ob den Göttern nicht in Wahrheit vollkommen gleichgültig war, was mit den Menschen geschah. Eine bittere, finstere und eiskalte Nacht war es gewesen, bis ein kleiner, schmaler Schatten vor ihm auftauchte. »Hier, Prinz Tugomir. Ich hab eine Decke für dich geklaut …«
Es war Semela, der blonde Daleminzerjunge, der mit seiner kleinen Schwester an der Hand den Tod seiner Eltern mitangesehen hatte. Oder zumindest seines Vaters, wie Tugomir inzwischen wusste, denn die Mutter war schon vor Jahren im Kindbett gestorben. Die Schwester hatten sie ihm auch weggenommen, denn die Daleminzerkinder waren als Sklaven an alle möglichen Sachsen verteilt worden. Semela hatte alles verloren, genau wie Tugomir selbst: seine Familie, seine Freiheit, sein Zuhause, seine ganze Welt. Aber anders als Tugomir verfügte der Junge über die Gabe, seinen Verlust hinter sich zu lassen und sich mit den Dingen, wie sie jetzt waren, zu arrangieren. Er war ein Lausebengel und tat meistens das Gegenteil von dem, was man ihm sagte. Er gab vor, die Sprache der Sachsen nicht zu verstehen, wenn man ihm etwas befahl, er stahl – meistens Brot, weil er ewig hungrig war –, und er lief von der Arbeit davon, um Tugomir auf Schritt und Tritt zu folgen und ihn mit unerschütterlicher Hingabe als seinen Fürsten, seinen Priester, seinen großen Bruder oder eine Mischung aus alledem anzuhimmeln. Der Koch, dem Semela eigentlich zur Hand gehen sollte, prügelte ihn regelmäßig windelweich, wenn er ihn beim Stibitzen oder beim Müßiggang erwischte, und Semela wehrte sich und trat und biss und brüllte vor Wut – niemals vor Schmerz –, wenn es passierte. Aber er schien nie gedemütigt. Und er wäre im Traum nicht darauf gekommen, gehorsam und fleißig zu werden, um den Prügeln zu entgehen.
Tugomir empfand die Gesellschaft des redseligen Knaben manchmal als Bürde, aber er schätzte Semelas Unbeugsamkeit und unerschütterliche Zuversicht. Er argwöhnte gar, dass er sich ohne Semela längst in den Fluss gestürzt hätte …
»Diese Tür scheint eine Seitenpforte zu sein«, murmelte er, trat ein paar Schritte vor und sah sich gründlich um. »Siehst du? Der Haupteingang ist dort am Westende.«
»Vielleicht ein Weg in die Freiheit?«, wisperte Semela.
Aber Tugomir schüttelte den Kopf. Den ersten der zwei Monate, die er hier verbracht hatte, war er unaufhörlich auf der Suche nach einem Fluchtweg gewesen. Inzwischen wusste er: Es gab keinen. Die Pfalz war gut befestigt, die beiden Eingänge Tag und Nacht bewacht. »Dieser Tempel liegt innerhalb der Palisade, die die ganze Pfalz umgibt.«
»Was ist eine
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