Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
als Geisel zu nehmen. Sie wünschte nur, es wäre nicht ausgerechnet der Mann, den sie liebte …
»Er ist nicht erbarmungslos«, versuchte sie zu erklären. »Aber du musst verstehen, dass er versucht, die Ostgrenze zu sichern.«
»Oh, ich würde sagen, er tut weit mehr als das«, gab Tugomir zurück und ließ sie los. »Er will eine neue Ostgrenze für sein Reich, und die Götter allein wissen, wie weit nach Osten seine ehrgeizigen Pläne ihn führen. Ihn – und deinen Vater.«
»Lass uns nicht streiten«, bat sie beklommen. Sie nahm seine Hand, um ihn zu versöhnen, aber er befreite sich von ihrem Griff, stand auf und trat an die kleine Bruchsteinmauer.
Sie musste ihren Mut zusammennehmen, aber schließlich erhob sie sich aus dem langen Gras, folgte ihm und blieb zwei Schritte hinter ihm stehen.
»Wir haben keine Zukunft, Alveradis«, sagte er, so leise, dass sie Mühe hatte, die Worte zu erhaschen.
Sie trat neben ihn. »Warum sagst du das?«
»Weil es so ist.« Er weigerte sich, sie anzusehen. »Selbst wenn eines Tages das Wunder geschähe, dass ich dich über die Elbe nach Hause führen könnte – und dieses Wunder wird niemals geschehen –, es hieße, dass ich dir genau das antäte, was die Sachsen meiner Schwester und den Daleminzern und mir angetan haben: Ich würde dich entwurzeln, dich aus der Welt reißen, die du kennst und verstehst, und dich dorthin verschleppen, wo du unter Feinden leben musst. Wie könnte ich das tun? Wo ich doch weiß , was es bedeutet?«
»Die Heveller wären nicht meine Feinde.«
Plötzlich wandte er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. »Sei versichert, das wären sie. Dein Vater wird so viel Hass unter den slawischen Völkern schüren, dass sie dir niemals vergeben könnten.«
»Und was bedeutet all das?«, fragte sie und wischte sich wütend eine Träne vom Gesicht. »Wenn wir keine Zukunft haben, heißt das, dass es auch kein Jetzt für uns gibt? Dabei bist du es doch, der gern sagt, dass wir Sachsen uns viel zu sehr von der Sorge um die Zukunft leiten lassen.«
»Aber was für ein Jetzt sollte das sein?«, konterte er. »Ein heimliches Stelldichein dann und wann, bis uns wieder jemand erwischt oder bis du schwanger wirst und die Zuflucht verlierst, die du hier gefunden hast?«
»Es müsste nicht so sein«, widersprach sie. »Der König traut dir, das weißt du ganz genau. Wenn du dich nur entschließen könntest, dich in seinen Dienst zu stellen und ihm einen Lehnseid zu leisten …«
»Weißt du eigentlich, was du da redest?«, entgegnete er schneidend. »Ich soll ihm einen Eid leisten, der mein Volk seiner sächsischen Tyrannei unterwirft?«
»Er ist kein Tyrann«, widersprach sie, jetzt ebenso aufgebracht wie er. »Er ist ein gottesfürchtiger und gerechter König, der nur das Beste für sein Volk will! Und vielleicht würdest du deine Pflicht deinem Volk gegenüber erfüllen, wenn du den Tatsachen endlich ins Auge siehst und anerkennst, dass die Slawen gegen die Macht des Königs nicht bestehen können und sich viel Leid ersparen würden, wenn sie sich freiwillig unterwerfen.«
»Ich verstehe. Aber ich fürchte, ich bin trotz all der Jahre hier noch nicht so sächsisch geworden, dass ich in der Lage wäre, mein Volk zu verraten und es Pflichterfüllung zu nennen.«
Von einem Herzschlag zum nächsten war Alveradis’ Zorn verraucht, und alles, was sie empfand, war Mutlosigkeit. »Deine Schwester verleugnet ihre slawischen Wurzeln nicht, aber sie hadert nicht damit, unter Sachsen zu leben, unsere Sitten anzunehmen, sogar unseren Gott«, führte sie ihm vor Augen, obwohl sie spürte, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte.
»Vielleicht ist es für eine Frau leichter«, gab er zurück.
Oder vielleicht liebt sie ihren Widukind einfach mehr als du mich, wollte sie ihm entgegenschleudern, doch sie schluckte es im letzten Moment herunter, weil sie sich zu sehr vor Tugomirs Antwort fürchtete. Schuldbewusst kam sie zu der Erkenntnis, dass sie wieder einmal zu viel wollte, wieder zu hohe Ansprüche stellte. Das gehörte sich nicht, wusste sie, denn in der Heiligen Schrift stand, dass die Frau dem Manne untertan war. Gott hatte es so eingerichtet, und darum stand es einer Tochter nur an, ihrem Vater zu gehorchen, bis der sie verheiratete, auf dass sie fortan ihrem Gemahl gehorchen, das Haus führen und möglichst viele möglichst gesunde Kinder gebären konnte. Das Wechselfieber hatte es so gefügt, dass Alveradis diesen vorgeschriebenen Weg nicht einschlagen
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