Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
rät?«
Hermann verzog schmerzlich das Gesicht. »Es würde nichts ändern. Vermutlich hätte er’s verdient. Aber ich würde Euch dennoch bitten, es nicht zu tun.«
»Warum?«
»Nun, weil er mein Vetter ist, natürlich. Dagegen ist man machtlos, oder?«
Der König nickte. Vetter, Bruder … Dagegen war man machtlos.
Die Komplet war Alveradis das liebste der Stundengebete. Immer wenn die Schwestern sich am Ende des Tages auf der Empore der Stiftskirche einfanden und zu singen begannen, überkam sie so etwas Ähnliches wie Frieden. Vielleicht waren es die Worte des Psalms, die sie so beruhigend fand. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, dass du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht .
Es erinnerte sie immer daran, wie es gewesen war, nachts mit Fieber aufzuwachen: die Schwäche, die Einsamkeit, die Furcht vor ihrem Vater. All das war jetzt vorüber, und sie wusste, sie hätte Gott dankbarer sein müssen, dass er sie hierhergeführt hatte, denn hier war sie sicher. Aber ebenso war sie eine Fremde.
Was natürlich nur an ihr selbst lag, wusste sie, und sie schloss die Augen, hüllte sich in die wohltuende Kühle und den Geruch des steinernen Gotteshauses und versuchte, sich ganz dem Gebet hinzugeben, wie die gütige Priorin es ihr ans Herz gelegt hatte. Die getragenen Gesänge der Schwestern hallten vom hohen Deckengewölbe zurück, und ihre schlichte Schönheit hatte etwas Tröstliches.
Als Alveradis die Lider wieder öffnete, wäre ihr um ein Haar ein Schreckenslaut entschlüpft, denn dort unten im Schatten einer der dicken Säulen stand Tugomir. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und eigentlich konnte sie ihn in seiner dunklen Kleidung im dämmrigen Licht gar nicht erkennen, aber sie wusste trotzdem, dass er es war. Oder hatte Gott ihr nur ein Trugbild geschickt, um sie zu prüfen? Sie schloss die Augen wieder. Prüfe mich nicht, Gott, bat sie. Ich könnte niemals bestehen …
Als sie das nächste Mal hinschaute, war die Erscheinung verschwunden.
Seite an Seite mit Dragomira verließ sie schließlich die Kirche und achtete darauf, dass sie die Letzten in der kleinen Prozession waren. Als sie die nordwestliche Ecke des Gotteshauses erreichten, schlangen sich unversehens zwei starke Arme von hinten um ihren Leib und zogen sie in die Schatten.
»Sag mir, dass du keinen Schwur abgelegt hast, der dich für immer an deinen Gott bindet«, murmelte er, die Lippen irgendwo über ihrem Ohr in ihr offenes Haar gedrückt.
Sie drehte sich in seinen Armen um. »Kanonissen legen keine Gelübde ab.«
Sie sahen sich in die Augen, und als Alveradis erkannte, wie groß sein Kummer war, fühlte es sich an, als habe sich eine Faust um ihr Herz geschlossen, die es ganz allmählich zusammenpresste. »Es tut mir so leid, Tugomir. Ich weiß, wie teuer Prinz Thankmar dir war.« Sie legte die Hände auf seine Wangen. Der kurze Bart fühlte sich stoppelig an, aber gleichzeitig seidig, und er kitzelte sie ein wenig in den Handflächen. Es war ein schönes Gefühl.
Ohne zu antworten, umschloss er ihre Hände mit seinen und befreite sein Gesicht. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, dann führte er Alveradis zu der Wiese hinter der Kirche, von wo aus man einen so herrlichen Blick über das Städtchen und weit hinaus auf den Harz hatte. Es war ihr Lieblingsplatz in Quedlinburg, und wann immer man sie ließ und das Wetter es erlaubte, zog sie sich hierhin zurück.
Tugomir würdigte die Aussicht keines Blickes. Er schien nur Augen für Alveradis zu haben und blickte sie so unverwandt an, dass ihr fast ein wenig unbehaglich davon wurde. Dann endlich legte er die Arme um sie und küsste sie, während seine Linke sich in ihr Haar grub, die Rechte allmählich ihren Rücken hinabwanderte. Alveradis hatte noch nicht viel Erfahrung mit Küssen. Niemand außer Tugomir hatte je ihre Lippen mit den seinen berührt. Aber dieser Kuss erschien ihr nicht fiebrig vor Gier wie damals im Kloster in Magdeburg, wo Henning sie ertappt hatte. Er war sehnsüchtiger und gleichzeitig beschaulich und zog sich in die Länge. Sie konzentrierte sich auf dieses noch so neue Gefühl, den schwachen Minzegeschmack auf Tugomirs Zunge, die samtige Weichheit seiner Lippen, die sie beim ersten Mal so überrascht hatte, und sie legte die Arme um seinen Hals, damit er nur ja nicht aufhörte.
Doch schließlich löste er sich von ihr, setzte sich vor sie ins hohe Gras, nahm wieder ihre Hand
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