Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
sich vor der Äbtissin.
»Ehrwürdige Mutter, ich hoffe, Ihr vergebt unser Eindringen.«
Mathildis sah ihnen mit undurchschaubarer Miene entgegen. »Vater Widukind.«
»Ich bitte um Entschuldigung für die Störung Eurer Versammlung, aber unser Anliegen duldet leider keinen Aufschub. Schwester Dragomira, Schwester Alveradis, seid so gut und begleitet uns hinaus.«
»Muss ich Euch wirklich daran erinnern, dass Kanonissen der Umgang mit Männer untersagt ist, Vater?«, fragte die Äbtissin.
Widukind lächelte eine Spur zerknirscht, und von dem Anblick zog Dragomiras Brust sich zusammen. Er hatte es bestimmt nicht vergessen. Widukind hatte die Folgen in unvergesslicher Weise zu spüren bekommen, die eine Missachtung dieses Verbots nach sich zog. Und doch funkelte etwas in seinen Augen, das man für Übermut hätte halten können. Dragomiras Blick glitt weiter zu dem Jungen an seiner Seite, der sie scheu, aber ohne Verlegenheit anlächelte. Wie groß du geworden bist, mein Sohn, dachte sie fassungslos. Beinah zehn Jahre alt. Und an Wilhelms Seite ihr Bruder, der ihr fast noch veränderter erschien als ihr Sohn, ohne dass sie hätte sagen können, welcher Art diese Verwandlung war.
»Wir sind im Auftrag des Königs hier«, erklärte Widukind.
»Wie sonderbar«, erwiderte Mathildis. »Seit wann schickt der König seiner Mutter einen gestrauchelten Priester und eine heidnische Geisel als Boten?«
»Ich fürchte, Ihr seid nicht ganz auf dem Laufenden, Tante«, teilte Widukind ihr mit. »Prinz Tugomir ist keine Geisel und auch kein Heide mehr, Gott sei gepriesen. König Otto schickt ihn nach Hause, in der Hoffnung, dass Tugomir den Osten befrieden kann, da Prinz Henning und Giselbert von Lothringen im Westen Krieg schüren.«
Mathildis lachte leise. »Ich werde um göttliches Wohlwollen für die Pläne des Königs beten. Er wird es brauchen, setzt er sein Vertrauen doch wieder einmal in die Falschen.«
Tugomir legte Wilhelm die Hand auf die knochige Schulter und führte ihn näher. Der Junge verneigte sich vor Mathildis. »Gott zum Gruße, Großmutter.«
Ihre feindselige Miene hellte sich auf. Die Königinmutter hatte immer eine Schwäche für Wilhelm gehabt, wusste Dragomira von ihrem Bruder, so seltsam es auch scheinen mochte, hatte sie doch weder für den Vater noch für die Mutter des Jungen besonders viel übrig.
»Wie schön, dich zu sehen, mein Junge. Was führt dich her?«
»Ich … ich musste die Domschule in Utrecht vorübergehend verlassen«, bekannte er.
»Aber warum denn nur?«
Es war nicht zu übersehen, dass sie den Jungen in Verlegenheit brachte. Hilfesuchend sah er zu seinem Onkel, und so war es Tugomir, der Mathildis antwortete: »Bischof Balderich befürchtete, Giselbert könnte Wilhelm und Brun als Geiseln nehmen.«
»Das würde Henning niemals zulassen«, protestierte sie entrüstet.
Tugomir zog die Brauen in die Höhe. »Falls es wirklich so sein sollte, dass der König sein Vertrauen in die Falschen setzt, hat er diese Neigung von Euch geerbt.«
Die Schwestern zogen erschrocken die Luft ein und tauschten nervöse Blicke.
Mathildis hingegen zeigte keinerlei Regung. Sie erwiderte Tugomirs Blick. Unangenehm lang. Aber schließlich war sie diejenige, die als Erste wegschaute und ihrem Enkel eine segnende Hand auf den dunklen Schopf legte. »Wo immer du deine Studien fortsetzt, ich bin sicher, du wirst gute Fortschritte machen, mein Junge.«
Dragomira sah ungläubig zu ihrem Bruder. Sie hatte noch nie erlebt, dass irgendwer die Königinmutter auf dem Schlachtfeld des Blickkontaktes besiegte. Sie selbst hatte es gelegentlich versucht und war jedes Mal gescheitert. Man brauchte irgendetwas dafür, das ihr fehlte, und als sie das dachte, erkannte sie plötzlich, was ihr Bruder mit einem Mal besaß und was ihn so verändert hatte: Es war fürstliche Würde.
Und er bewies sie gleich noch einmal, als er sagte: »Ihr erlaubt.« Es klang eher wie eine Feststellung denn eine Bitte, und er nahm Alveradis’ Arm und führte sie hinaus.
Zum ersten Mal seit fast zehn Jahren versäumte Dragomira die Stundengebete an diesem wundervollen Frühsommertag, und sie merkte es nicht einmal. Sie saß mit Wilhelm auf der kleinen Wiese hinter der Kirche, wo Mirnia eine Decke im Gras für sie ausgebreitet hatte, und erfreute sich an ihrem Sohn.
»… und dann haben wir den Maischebottich in den Hühnerhof geschafft und dort ausgekippt. Die Hühner waren tagelang besoffen, Mutter. Es war einfach großartig!«
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