Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Menschen gesorgt hatte, die ihm anvertraut gewesen waren.
Und trotzdem …
Alveradis war es gewesen, die es ihm schließlich ermöglicht hatte, nach vorn zu blicken und weiterzumachen. Er hatte sie mitgenommen auf seinen langen Ritt, weil er um ihr Leben fürchtete, wenn er sie auf der Brandenburg zurückließ. Vom ersten Augenblick an war sie der Schönheit des Havellandes erlegen. Mit leuchtenden Augen sog sie den Anblick der Wälder und der Seen in sich auf und brach wieder und wieder in wortreiches Entzücken aus, bis Tugomir schließlich lachen musste. Weder die häufigen Regenschauer noch das manchmal bedrohliche Zwielicht im Schatten der alten Eichenwälder konnten ihre Begeisterung dämpfen, und während der langen Stunden im Sattel fragte sie ihn tausend Dinge über dieses Land, seine Menschen und ihren Glauben.
Also erzählte Tugomir ihr von den vier Großen Göttern, denen die Heveller keine Tempel bauten, weil sie zu erhaben waren, um sich der Geschicke der Menschen anzunehmen: dem Gottvater Svarog, der die Welt erschaffen und sich dann zur Ruhe gelegt hatte. Von seinem Sohn, dem Sonnengott Svarozic. Von dem Feuergott Perun und von Veles, dessen Reich die Unterwelt war. Und er erzählte ihr von Triglav, dem mächtigen Stammesgott der Heveller, und natürlich vom Kriegsgott Jarovit, dessen Priester Tugomir selbst einmal gewesen war, von den zahllosen kleineren Göttern und Göttinnen, von Kobolden und Geistern und Vily. Alveradis lauschte ihm mit zunehmender Faszination, bis er sich schließlich bei dem Gedanken ertappte, welch ein Hohn es wäre, wenn sie zu seinen Göttern überträte, so wie er zu ihrem. Und sie bestand darauf, dass er sie jeden Tag ein Dutzend Worte in seiner Sprache lehrte. Sie vergaß nie ein einziges.
Abends, wenn es dunkel wurde, breitete er ihre Felldecke ein Stück entfernt vom Lagerfeuer ihrer Eskorte aus, und sie liebten sich so diskret wie möglich. Am Ufer der Oder hatte Alveradis ihm schließlich eröffnet, dass sie schwanger war. Da hatte er neuen Mut geschöpft. Wenn dieses Kind gesund zur Welt kam, war er nicht von Gott verflucht, wusste er, sein Geschlecht nicht dazu verurteilt, zu verlöschen. Und falls es ein Knabe wurde und er das Erwachsenenalter erreichte, würde eines Tages ein Fürst über die Heveller herrschen, der sächsisches und slawisches Blut in sich vereinte und die Kluft vielleicht überbrücken konnte. Ehrgeizige Träume, wusste Tugomir. Doch sie machten ihm Hoffnung.
»Die Strohköpfe legen es darauf an, dass wir verhungern«, wetterte Tuglo, nachdem Dervan dem Fürsten und seinen Besuchern einen Becher Met eingeschenkt hatte. Niemals nannte Tuglo die Sachsen anders als ›Strohköpfe‹. »Sie überfallen die Dörfer in Horden und stehlen das Vieh und das bisschen Korn, das die Menschen haben.«
Tugomir nickte. »Ich weiß, Tuglo.«
»Und wer sich wehrt, den schlachten sie ab!«
»All das wird ein Ende nehmen. Und zwar bald.« Tugomir konnte nur hoffen, dass er nicht zu viel versprach.
Tuglo schnaubte ungläubig.
»Wie?«, fragte Godemir. Anders als Tuglo begegnete er Tugomir nie mit Argwohn und Geringschätzung, aber auch er klang skeptisch. »Du sagst, der Sachsenkönig wird seinen Stiefel niemals freiwillig aus unserem Nacken nehmen. Und du sagst, dein Schwiegervater …«
»Nenn ihn nicht so.«
Godemir hob begütigend die Hände. »Du sagst, Graf Gero wird die Befehle seines Königs missachten, wann immer er glaubt, damit durchzukommen. Also wie soll dann irgendetwas besser werden?«
»Sie werden weiter stehlen und morden, bis unser Volk verhungert und ausgerottet ist«, prophezeite Tuglo wütend. »Und alles, was dir einfällt, ist, uns weiszumachen, dass dein neuer Gott es schon richten wird. Das ist … erbärmlich für einen Fürsten der Heveller. Wenn dein Vater das erleben müsste …«
»Aber das muss er ja nicht, Tuglo«, warf Tugomir scheinbar liebenswürdig ein. »Mein Vater hat sich im Angesicht seiner Niederlage gegen die Sachsen selbst gerichtet, nicht wahr? Das ist offenbar die Lösung, die du bevorzugst, denn du hast ihm ja die Hand mit der Klinge geführt, war es nicht so?«
Tuglo schnappte nach Luft, so entrüstet, dass er nicht sogleich eine Antwort hervorbringen konnte.
Das gab Tugomir Gelegenheit fortzufahren, und es war Godemir, zu dem er sprach. »Gero verfügt über so viele Krieger, dass er es riskieren kann, die Befehle seines Königs zu ignorieren, das ist wahr. Zumal König Otto derzeit im Westen Krieg
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