Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
im Rhein ertrunken, wie ich höre. Es erscheint mir passend: Ein unrühmliches Ende für einen erbärmlichen Verräter. Das bist im Übrigen auch du. Aber du lebst noch, wie ich sehe, und hast nichts Besseres zu tun, als ausgerechnet an mein Tor zu klopfen und mich womöglich dem Zorn unseres königlichen Bruders auszusetzen. Aber das ist dir völlig gleich, nicht wahr, Henning? Du hast in deinem ganzen Leben noch niemals an jemand anderen gedacht als an dich selbst.«
Er konnte nicht länger zu ihr hochsehen, sein Nacken schmerzte davon. Er senkte den Kopf. »Aber ich weiß nicht, wo ich hinsoll«, bekannte er und schniefte. »Ich kann nirgendwo hin. All meine Verbündeten sind tot. Und all meine Freunde.« Er schaute doch wieder nach oben, damit Gerberga seine Tränen sah und sich davon erweichen ließ. »Bitte, Schwester …«
Doch Gerberga hatte den Kopf abgewandt und schien etwas über die Schulter zu sagen. Dann war mit einem Mal ein Mann an ihrer Seite und spähte nach unten.
»Ah, Prinz Henning! Welch eine Überraschung!«
Henning stockte beinah der Atem. Es war der König des westfränkischen Reiches, Ludwig von jenseits des Meeres, der besitzergreifend den Arm um Gerbergas Schultern legte.
Henning kam schleunigst auf die Füße. »Seid gegrüßt, König Ludwig! Welch ein Glück, dass wir uns hier begegnen«, rief er hinauf. »Ich fürchte, unsere Sache steht schlecht, mein Freund. Lasst mich ein, damit wir überlegen können, wie es weitergehen soll.«
» Unsere Sache?«, wiederholte Ludwig verwundert. »Ich fürchte, Ihr täuscht Euch, edler Prinz. Ich weiß nichts von einer gemeinsamen Sache zwischen mir und Euch.«
»Wirklich nicht?«, gab Henning zurück. »Dann lasst Euch sagen: Otto wird nicht vergessen, dass Ihr einen Lehnseid von Giselbert akzeptiert habt. Otto und Hugo von Franzien werden Euch in die Zange nehmen und zerquetschen. Aber wenn ihr mir zu meiner Krone verhelft, könnt Ihr immer noch hoffen, die Eure zu behalten!«
»Ich habe von König Otto nichts zu befürchten, Prinz Henning«, widersprach Ludwig. Dann tauschte er ein wissendes Lächeln mit Gerberga, drückte einen Kuss auf ihre Wange und erklärte Henning: »Gott hat es so gefügt, dass ich Ottos Schwager geworden bin, stellt Euch das nur vor.«
» Was ?«, fragte Henning verdattert, und dann, an seine Schwester gewandt: »Du hast ihn geheiratet ? Kaum dass dein Gemahl ein feuchtes Grab in den Fluten des Rheins gefunden hat? Kennst du keinen Anstand?«
Sie schnaubte. »Gerade du solltest nicht von Anstand sprechen.«
»Otto wird euch beiden den Kopf abreißen«, prophezeite Henning – nicht ohne Schadenfreude.
»Ich glaube nicht«, gab sie zurück. »Er wird ein wenig verstimmt sein, schätze ich, aber im Gegensatz zu dir weiß Otto, was Anstand ist. Und er weiß auch, dass ich an Giselberts Seite genug für Krone und Reich gelitten habe. Er wird mir vergeben, dass ich mein Schicksal in die eigenen Hände genommen habe. Und er wird Ludwig vergeben, was in der Vergangenheit war, und sogar Hugo von Franzien beschwichtigen, weil auch Ludwig jetzt sein Schwager ist.«
»Ihr seht, hier ist nichts für Euch zu holen, Henning Hasenfuß«, fügte Ludwig hinzu. »Darum seid klug und verschwindet, ehe Ottos Truppen hier auftauchen. Und nun entschuldigt uns. Wir sind erst seit gestern verheiratet, Ihr versteht sicher …«
Gerberga kicherte wie ein Backfisch, während der Fensterladen sich schloss.
Brandenburg, Dezember 939
»Aber was hat es auf sich mit diesem … diesem Brauch?«, fragte Alveradis. Ihr Slawisch war noch ungelenk, oft fehlten ihr einzelne Wörter, aber Dragomira fand es bemerkenswert, wie schnell ihre Schwägerin die fremde Sprache lernte. »Warum gebt ihr euren Söhnen erst einen Namen, wenn sie schon sieben oder acht sind?«
»Sie haben ja Namen«, widersprach Jarmila. »Wir nennen sie ›Junge‹ oder ›Kleiner‹ oder sogar ›Gehört-mir-nicht‹, damit die bösen Geister ihnen keine Beachtung schenken, solange sie so klein und wehrlos sind. Erst wenn ihre Väter ihnen zum ersten Mal das Haar schneiden, bekommen sie ihren richtigen Namen. Wenn sie in die Männerwelt eintreten.«
Jarmila – Dragomirs redarische Witwe – hatte den Tod ihres Gemahls verdächtig schnell überwunden. Dragomira ließ den Pinsel sinken und betrachtete das junge Mädchen mit dem schlafenden Säugling im Arm einen Moment. Jarmila saß mit Alveradis und Egvina um ein Kohlebecken. Alveradis’ Schwangerschaft war jetzt
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