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Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)

Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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wären schon wieder fort. So viele Menschen, so viele Worte, so viele Festmähler und Trinksprüche, so viele Beteuerungen und Schwüre – er hatte gründlich genug davon. Und er wünschte außerdem, das Frühjahr käme endlich. Er hatte Pläne, in Lothringen ebenso wie in Burgund. Immer vorausgesetzt, dass der Osten ruhig blieb und die Ungarn nicht kamen, beabsichtigte er, im Frühjahr nach Westfranken zu ziehen und König Ludwig in die Schranken zu weisen – Schwager oder nicht. Aber noch hielt der Winter – der kälteste und bitterste seit Menschengedenken – das ganze Land in seinen Klauen, und bis das Tauwetter vorüber war und die Flüsse wieder passierbar wurden, war Pläne schmieden das Einzige, was er tun konnte.
    »Gott, lehr mich Geduld«, murmelte er seufzend und fügte grinsend hinzu: »Jetzt gleich.«
    Er vernahm ein leises, beinah verstohlenes Rascheln in seinem Rücken und wandte den Kopf, die Hand am Dolch. Dann ließ er sie wieder sinken. Es war nur ein Bettler in einer zerlumpten Kapuze, der das Kirchenschiff durchschritt. Langsam, als bereite das Gehen ihm Mühe. Otto stand im nördlichen Seitenschiff und glaubte, der Mann habe ihn im Schatten der Säulen nicht gesehen, doch dann verließ der Bettler seinen Kurs Richtung Altar und kam auf ihn zu.
    Otto griff nach der Börse an seinem Gürtel, um eine Münze herauszuholen, und wollte ihm raten, an der Klosterküche um Almosen zu bitten, doch mit einem Mal blieben die Worte ihm im Halse stecken.
    Keinen Schritt von ihm entfernt hielt der Bettler an, den Kopf gesenkt. Dann fiel er auf die Knie. Hart. Ohne jeden bewussten Entschluss trat Otto einen Schritt zurück, um der Geste der Unterwerfung zu entrinnen, aber es war zu spät: Der Bettler streckte sich auf den eisigen Steinfliesen aus, umfasste den rechten Schuh des Königs mit beiden Händen und drückte die Lippen darauf, so lange und innig, als sei es der Mund einer schönen Frau. Dann lag er still, die Hände immer noch auf Ottos Schuh.
    Der König befreite seinen Fuß mit einem kleinen Ruck. »Was willst du?«
    »Vergebung.«
    »Die hast du nicht verdient.«
    »Ich weiß. Ich habe mich gegen Euch und gegen Gott versündigt. In so schändlicher Weise, dass ich weder Milde noch Gnade verdient habe. Und trotzdem … trotzdem erflehe ich Eure Vergebung, mein König … In aufrichtiger Reue … und … und in Demut …«
    »Oh, um Himmels willen, hör auf zu flennen, Henning«, knurrte der König. »Steh auf!«
    Sein Bruder richtete sich zumindest auf die Knie auf, verharrte dann aber, die Hände auf den Oberschenkeln. Beide waren rissig, rot und geschwollen, und am kleinen und Ringfinger der Rechten waren die oberen Glieder schwärzlich verfärbt.
    »Sieht so aus, als würdest du zwei Finger verlieren«, bemerkte Otto nicht ohne Genugtuung.
    »Die Hand taugt sowieso nichts mehr seit Birten. Und heißt es nicht: So deine Hand dich zur Sünde verführt, schlag sie ab, denn es ist besser, verstümmelt ins Ewige Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen.«
    Der König war für einen Augenblick sprachlos, denn genau das hatte er auch gedacht. Dann erwiderte er: »Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich dich das Wort des Herrn zitieren höre. Ich wusste gar nicht, dass du es kennst.«
    Henning schien ihn nicht gehört zu haben. »Hildger hat bei Andernach beide Hände verloren.«
    »Er hat mehr verloren als nur die Hände«, gab Otto unbarmherzig zurück. »Geh in die Halle, dann kannst du sehen, was es aus seinem Vater gemacht hat: einen gebrochenen Mann.«
    »Ich frag mich, ob er im Himmel oder in der Hölle ist. Hildger, meine ich. Und Wiprecht … Wiprecht musste ich selbst töten. Wundbrand.«
    »Ich will das nicht hören, Henning. Und wenn du jetzt nicht aufstehst, schwöre ich dir, werde ich dich bei den Haaren aus der Kirche schleifen und über dem Haupttor an der Palisade aufknüpfen. Dann hätten auch die Krähen einen Festtagsschmaus.«
    Das hatte den gewünschten Effekt. Henning erwachte aus seinem sonderbaren Dämmerzustand und kam nicht ohne Mühe auf die Füße.
    Und dann stand er da, leicht schwankend, mit gesenktem Kopf und hängenden Armen. Er hatte dem König noch kein einziges Mal in die Augen geschaut.
    »Ich nehme an, Mutter schickt dich?«, fragte Otto.
    Henning schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht gesehen. Ich war … ich bin herumgeirrt. Lange. Erst wollte ich nach Laon. Dann hatte ich Angst, dass Ludwig mich ausliefert. Also bin ich

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