Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
ihm forschen lassen, aber bislang bleibt der Prinz spurlos verschwunden. Auch im Westen ist dieser Winter bitterkalt, das ganze Land liegt unter einer Decke aus Eis und Schnee, feindselig gegen Mensch und Tier. Die Königinmutter steht Todesängste um ihren Sohn aus .«
»Gut so«, sagten Dragomira und Alveradis wie aus einem Munde.
» Trotz der Himmelszeichen und Kometen, die die Menschen nach der Schlacht von Andernach in Angst versetzt haben, ist der Krieg vorüber, und es herrscht Frieden in Ottos Reich. Der König hat Franken besetzt und nicht die Absicht, einen neuen Herzog zu benennen. Herzog Hermann und ganz Schwaben stehen fest an seiner Seite, genau wie Berthold, der Herzog von Bayern. Der König wollte Berthold eigentlich mit seiner Schwester Gerberga vermählen, Giselberts Witwe, um das Band zu festigen. Aber nun kommen wir zu den sonderbaren Neuigkeiten, geliebte Schwester, die, dessen bin ich sicher, dir ebenso viel Vergnügen bereiten werden, wie sie uns verdrießen: Unser Neffe Ludwig, der König der Westfranken, hat Gerberga geheiratet. Ohne die Billigung des Königs, versteht sich, dafür offenbar mit der vorbehaltlosen Einwilligung seiner Braut .«
Es gab Ausrufe der Verwunderung, aber Egvina war nicht die Einzige, die schmunzelte.
Ihre Belustigung verflüchtigte sich indessen rasch, als sie fortfuhr: » Das durchkreuzt nicht nur unsere Pläne in Bayern, es stärkt auch in gefährlicher Weise Ludwigs Anspruch auf Lothringen. Mit Gerberga hat er auch ihren Sohn in seine Gewalt gebracht, den jungen Heinrich, Giselberts Erben. Und diese unerhörte Heirat bringt den König noch aus einem anderen Grund in eine prekäre Lage: König Ludwig und Herzog Hugo von Franzien, die beiden Rivalen um die Macht im westfränkischen Reich, sind nun beide seine Schwäger und erheben Anspruch auf seine Loyalität. Doch gewiss kannst du dir vorstellen, wie zornig der König auf unseren Neffen Ludwig ist, Schwester. Wir können nur beten, dass das Frühjahr uns keinen neuen Krieg im Westen bringt .« Egvina blickte auf. »Das war alles, was die Politik betrifft. Der Rest geht euch nichts an.«
»Die Prinzen und Prinzessin sind wohlauf?«, fragte Tugomir.
»Das sind sie, Fürst«, antwortete sie zerstreut, den Blick auf den Brief gerichtet. »Aber du bist nicht mehr ihr Leibarzt.«
»Ach richtig …« Er lächelte. Es war nur ein flüchtiges Lächeln, aber immerhin, dachte Dragomira. Ihr Bruder zeigte es heute öfter als früher. So bitter Dragomirs Tod diese Heimkehr für Tugomir auch gemacht hatte, so schwierig es auch oft war mit Tuglo und den übrigen Männern, die dem Fürsten misstrauten und keine Gelegenheit ausließen, um ihn herauszufordern oder seinen Herrschaftsanspruch in Zweifel zu ziehen, wusste sie doch, dass sich mit dieser Heimkehr Tugomirs größte Sehnsucht erfüllt hatte. Die Gefangenschaft hatte er wie ein eisernes Joch auf den Schultern getragen, und nun, da er es abgelegt hatte, kam er ihr … lebendiger vor. Und größer.
Dragomira hatte Zweifel, ob dieses Wagnis, das Tugomir und Widukind hier begonnen hatten, gelingen konnte. Denn auch wenn es niemand erwähnte – jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart –, waren Geros Nähe, seine Blutgier und sein Rachedurst doch wie ein Schatten, der über allem dräute, was sie hier zu schaffen hofften. Doch womöglich stand Gero ja eine Überraschung bevor. Der Tugomir, mit dem er es hier zu tun bekäme, war auf jeden Fall ein anderer.
Der Gedanke machte ihr Mut.
Magdeburg, Januar 940
Die Stille in der Klosterkirche war wohltuend wie ein prasselndes Feuer nach einem Fußmarsch durch einen Schneesturm. Otto war allein zur Sext gekommen und hier geblieben, nachdem die Mönche ihr Stundengebet gesungen hatten und wieder hinausgezogen waren. Heute war es nicht einmal so sehr Gottes Führung, die er suchte, sondern einfach nur Ruhe.
Der Hoftag anlässlich des Weihnachtsfestes war der reinste Jahrmarkt. Fürsten der Welt und der Kirche waren aus dem ganzen Reich nach Magdeburg gekommen. Manche erhofften sich Belohnung oder auch nur Anerkennung für ihre Treue während des vergangenen Kriegsjahres. Andere erbaten Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht, und wieder andere hatten Vergebung für ihre Treulosigkeit erfleht, allen voran Odefried von Iburg, der Graf im Nethegau. Otto hatte ihn wie die meisten anderen in Gnaden wieder aufgenommen. Er konnte es sich leisten, Großmut zu zeigen, denn er hatte den Krieg gewonnen.
Doch er wünschte, sie alle
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