Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
kommen, und erschrocken riss Dragomira die Augen wieder auf. Sie wusste genau, sobald sie schlief, würden sie ihr das Kind wegnehmen. »Ich fürchte mich davor, aufzuwachen und zu wissen, dass ich allein und lebendig begraben bin.«
Die Äbtissin nickte. »Vielleicht wird es dir so vorkommen. Aber in Wahrheit wirst du freier sein als je zuvor in deinem Leben.«
Magdeburg, September 929
»Nimm die Nuss in die linke Hand, Prinz Otto«, sagte Tugomir und reichte ihm eine geschälte Haselnuss.
Otto nahm sie bereitwillig und schloss die Faust darum, fragte aber neugierig: »Wozu?«
»Es ist der beste Weg, um herauszufinden, was dich krank gemacht hat.«
»Wir haben überhaupt keine Zeit für diesen Firlefanz«, grollte der König. »Heute früh hätten wir aufbrechen sollen. Die Fürsten versammeln sich in Quedlinburg, weil ich sie hinbestellt habe, und nun lassen wir sie warten. Das wird sie nicht gerade langmütiger stimmen, wisst ihr.« Er lief so rastlos hinter der Tafel auf und ab, dass Thankmar sich um die Holzdielen zu sorgen begann. Sie ächzten schon.
»Ich nehme an, sie werden Verständnis haben, dass ein König sich verspäten kann, wenn sein Reiterheer gerade eine Schlacht geschlagen hat«, warf er ein und füllte einen Becher mit Wein. »Außerdem ist noch kein einziger der wirklich wichtigen Männer in Quedlinburg eingetroffen. Das sagt jedenfalls der Bote des Bischofs von Halberstadt.«
»Bischof Bernhard und ich sind nur leider höchst unterschiedlicher Ansicht darüber, wer wichtig ist und wer nicht«, erwiderte der König grantig. In letzter Zeit war er oft grantig, war Thankmar aufgefallen. Irgendetwas machte ihm zu schaffen, aber er rückte nicht damit heraus, was es war.
Goldenes Abendlicht drang durch die geöffneten Fensterläden. Die Höflinge und die Dienerschaft hatten die Halle bereits verlassen. Nur die königliche Familie und die beiden angelsächsischen Prinzessinnen waren noch zugegen. Und Tugomir. Otto selbst hatte nach ihm geschickt.
Der Hevellerprinz wandte sich an Thankmars und Ottos jüngeren Bruder. »Prinz Henning, bist du bereit?«
»So bereit, wie ich je sein werde«, brummte der Zehnjährige, rutschte Otto gegenüber auf die Bank am linken Ende der Tafel, schob den rechten Ärmel nach oben und stützte den Ellbogen auf. Otto tat es ihm gleich, und sie verschränkten die Hände. Hennings rosige Kinderhand verschwand regelrecht in Ottos Kriegerpranke, und Thankmar verspürte beinah so etwas wie Mitgefühl für seinen kleinen Bruder, obwohl er ihn nicht ausstehen konnte. Im Armdrücken gegen Otto konnte Henning nur jämmerlich scheitern.
»Jetzt«, sagte Tugomir.
Die beiden Brüder begannen ihr Kräftemessen, und erwartungsgemäß krachte Hennings Handrücken binnen eines Lidschlags auf die Tischplatte.
»Autsch!«, rief der Junge erbost. »Du musst mir nicht gleich die Knochen brechen, Otto!«
Im Vorbeigehen verpasste der König ihm eine unsanfte Kopfnuss. »Sei keine Memme.«
Tugomir nahm Otto die Haselnuss aus der Linken und legte sie zurück in die große Tonschale, welche Semela aus der Küche herbeigeschleppt hatte. Sie enthielt ein seltsames Sammelsurium an Lebensmitteln: Bohnen, Erbsen, kleine Beutel mit Getreide oder Gewürzen, Früchte, Kräuter … Thankmar entdeckte sogar zwei tote Fische.
Tugomir wählte ein Säckchen und schnupperte daran. »Pfeffer. Esst ihr ihn oft?«
Otto schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Vermutlich wollte er vor seiner angebeteten Prinzessin nicht zugeben, dass seine knausrige Mutter den Pfeffer weitgehend vom Speiseplan verbannt hatte, weil er so teuer war.
Tugomir legte das Säckchen in Ottos Linke, und wieder verschränkten die Brüder die Hände zum Armdrücken. Henning erlitt seine zweite Niederlage.
»Nein, der Pfeffer war es auch nicht«, erklärte Tugomir und nahm Otto den Beutel aus der Hand.
»So ein Mist «, zischte Henning wütend. Hilfesuchend wandte er sich an seine Mutter. »Warum ich? Wieso kann Thankmar das nicht machen …«
Der älteste Bruder verzog amüsiert den Mund. »Weil ich im Gegensatz zu dir stärker bin als Otto …«
»Ah ja?«, warf Otto stirnrunzelnd ein.
»… aber wenn du lieber kneifst, finden wir sicher eine Küchenmagd, die für dich einspringt, Brüderchen«, schloss Thankmar.
Königin Mathildis streifte ihn mit einem Blick, von dem Thankmar nicht gerade warm ums Herz wurde. Sie hielt die Lider halb gesenkt, ein boshaftes Lächeln um die Lippen. So als wisse sie von
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