Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
»Du hast es lieber bequem, nicht wahr?«
»So ist es. Und was ist mit dir? Du kommst mir vor wie ein Mann, der ständig nach dem nächsten Feuer sucht, in das er seine Füße halten kann. Du sammelst abscheuliche Erinnerungen wie andere Männer Pferde oder Silberplatten sammeln.«
»Ich sammle Gründe, euch zu hassen«, entgegnete Tugomir. »Und sie sind nie schwer zu finden, glaub mir.«
»Aber was willst du denn damit? Was findest du so unwiderstehlich daran, dir selbst das Leben bitter zu machen?«
»Moment. Ich mache mir selbst das Leben bitter, sagst du, ja? Wer war es doch gleich wieder, der grundlos die Brandenburg überfallen und meinen Bruder getötet hat? Meine Schwester geschändet und mich hierher verschleppt? Das Volk der Daleminzer ausgelöscht …«
»Ja, ich weiß, ich weiß«, ging Thankmar ungeduldig dazwischen. »All das ist geschehen und ziemlich grässlich für dich, das will ich dir gern zubilligen. Aber ganz gleich, was du tust oder sonst irgendwer tut, nichts wird diese Dinge ungeschehen machen. Und sind wir mal ehrlich: Deine Schwester ist in Sicherheit an einem Ort, wo sie niemals wird hungern oder frieren oder hart arbeiten müssen. Du bist nicht eingekerkert, und du bist unversehrt, wenn du nicht gerade Gero in die Hände fällst. Hätte auch schlimmer kommen können. Viel schlimmer.«
»Du hast wirklich recht«, höhnte Tugomir. »Ich sollte mich ein wenig dankbarer zeigen.«
Thankmar ließ die Zügel los, um hilflos die Arme hochzuwerfen. »Ich kann dich einfach nicht verstehen. Sollte sich wirklich herausstellen, dass du meinem Bruder das Leben gerettet hast, dann bist du ein großer Heiler, Tugomir. Nur was hast du davon, wenn du alle verabscheust, die du heilst?«
»Macht.«
»Wie bitte?«
»Macht. Du fragst, was ich davon habe, die zu heilen, die ich verabscheue, und die Antwort lautet: Macht über sie. Wenigstens ein klein wenig. Nur deswegen konnte ich diese Männer retten. Und wo wir gerade davon sprechen, Prinz Thankmar: Ich will Semela. Als persönlichen Diener oder irgendetwas in der Art.«
»Semela? Diesen Daleminzerjungen?«, fragte Thankmar entgeistert. »Aber er arbeitet in der Küche, oder nicht? Ich nehme an, er wird dort gebraucht. Wir finden einen anderen Diener für dich und …«
»Semela«, unterbrach Tugomir entschieden. »Er ist mir ein brauchbarer Gehilfe. Und der Koch verprügelt ihn ständig. Damit wird jetzt Schluss sein. Besser, ihr gebt mir den Jungen, sonst wird der Koch in absehbarer Zeit ein rätselhaftes und qualvolles Ende erleiden.« Er sah dem Prinzen in die Augen und lächelte. »Nicht alle Kräuter, die die Götter uns schenken, sind der Gesundheit zuträglich, verstehst du?«
Möllenbeck, September 929
»Du hast es verdient zu leiden«, beschied Schwester Irmgardis. »Du hättest noch viel Schlimmeres verdient, liederliche, heidnische Hure, die du bist!«
Dragomira drehte den Kopf zur Wand und schloss die Augen. Wenn du wüsstest, wie schlimm es ist, wärst du zufrieden, dachte sie.
»Wieso schreist du nicht, he? Alle Wöchnerinnen schreien. Das ist natürlich, das ist richtig, das hat Gott so gefügt. Aber du nicht! Was seid ihr Slawen für widernatürliche Wilde? Sieh sie dir an, Gertrudis, sie gebiert ohne einen Laut, wie eine Kuh !«
»Aber Schwester Irmgardis, wieso bist du so hartherzig?«, fragte Gertrudis beklommen. »Sieh doch nur, wie ihr Gesicht sich verzerrt. Hör, wie sie keucht. Sie leidet wie jede andere Wöchnerin auch. Außerdem ist sie jetzt unsere Schwester, und wir sollten ihr beistehen.«
Dragomira hätte sie gern mit einem Lächeln belohnt, denn Gertrudis war ein schüchternes und ängstliches Geschöpf, nicht älter als sie selbst, und für gewöhnlich gab sie niemals Widerworte. Umso dankbarer war Dragomira ihr. Doch ihr Lächeln geriet zu einer Grimasse, weil die nächste Wehe sie packte. Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, um still zu bleiben. Das hatte sie sich geschworen. Eine wahre Fürstentochter gebar ihre Kinder klaglos, hatte man sie gelehrt. Und das wollte sie sein, eine wahre Fürstentochter, auch wenn ihr Vater niemals von ihrer Tapferkeit erfahren würde. Aber es wurde immer schlimmer. Sie fing an, sich zu sorgen, dass sie ihren guten Vorsätzen nicht würde treu bleiben können …
Eine warme, trockene Hand schloss sich um ihre Faust. »Du darfst dich nicht so verkrampfen«, sagte die Hebamme. »Davon wird der Weg für dein armes Kind nur noch
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