Das Haus am Abgrund
schenkst. Der Fluch muss ein Ende haben. Wenn eine deiner Töchter im November zur Welt kommt, dann bringe sie fort, so weit es nur geht.«
Samhain nickt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
November beugt sich vor und küsst die Tränen fort, wischt sie mit ihren Händen von Samhains Wangen. »Ich liebe dich«, sagt sie leise. »Weine doch nicht. Es tut so weh, es tut so weh, so weh!«
»Ich bin schon hier.« Ihre Tante stellte den Verbandskasten auf den Tisch und nahm die umwickelte Hand. »Wir müssen sehen, ob es genäht werden muss.« Sie schlug den blutigen Stoff des Küchentuchs vorsichtig beiseite und inspizierte den Schnitt. »Sauber. Tief, aber ich glaube, das kann ich mit Pflaster reparieren.« Sie lächelte November an. »Mein armes Häschen. Du bist ganz blass. Wenn du so schlimme Schmerzen hast, rufe ich Doktor Evans, damit er dir eine Spritze gibt.«
November schüttelte den Kopf. Die verletzte Hand pochte dumpf, aber der Schmerz war auszuhalten. »Es geht schon«, sag t e sie. »Ich habe mich nur erschreckt.«
Sie ließ sich verarzten und freute sich beinahe, dass es wehtat. Es vertrieb die düsteren Bilder aus ihrem Kopf. Tante Eliette verband den Schnitt und räumte das Verbandszeug wieder ein. »Jetzt sehe ich mal, ob ich die Bratkartoffeln noch retten kann.« Sie strich November über den Kopf. »Du musst etwas essen, dann geht es dir gleich wieder besser.«
November überließ sich der Fürsorge ihrer Tante. Sie schloss die Augen und lauschte den Küchengeräuschen und dem Wind, der ums Haus wehte. Es war Frühling. Der November lag noch in weiter Ferne. Sie war noch nicht in Gefahr ...
Novembers Tagebuch
St. Irais, 31. Oktober
I ch fürchte mich so sehr, dass meine Knie zittern und mein Herz stolpert.
Adrian, wenn du heute nicht zu mir kommst, dann werde ich sterben, ohne dich noch einmal geküsst zu haben.
Ich weine und kann nicht aufhören zu weinen. Ich will nicht sterben, bitte, ich will leben!
33
ADRIAN
Ich tauche aus einem brunnentiefen Schlaf schrittweise an die Oberfläche empor. Schaukelnd, wie auf einer sanften Dünung. In der Nähe murmeln Stimmen, aber es ist mir zu anstrengend, ihnen zu lauschen. Ich lasse die Worte an mir vorbeiplätschern und greife nur hier und da einen halben Satz, ein paar Worte heraus, drehe sie in meinem Kopf, um zu sehen, ob sie zusammenpassen, und lasse sie dann wieder in den leisen Strom der Stimmen zurückfallen. Die Unterhaltung schwimmt wie eine Schule großer, dunkler Fische an mir vorüber.
»... Zustand fürs Erste stabil ...« Das klingt doch freundlich. Stabil. Etwas ist stabil. So schön. Ich greife träge hinaus, fange die Worte ein, die vorbeischwimmen. Glitzernd und glatt. »... unbedingt den Hirndruck verringern. Im Krankenhaus könnte man ...«
Ich bin so müde, sinke ein bisschen tiefer. Höre große, träge Walfischworte wie »Schwellung zurückgehen« und »keine Schmerzen«, »Krankenhaus in Truro«, »lieber zu Hause« ... lieber zu Hause, ja. Ich erinnere mich an Krankenhäuser, das sind k eine Orte, an denen man sich gerne aufhält. Schmerzen und Hilflosigkeit, piepsende Apparate und ein Geruch, der grün und voller Angst ist.
Sinke noch ein wenig tiefer, dümple in dunkler, warmer Stille. Tauche wieder auf, weil etwas meinen Arm berührt, kalt und unangenehm. Erkenne die Stimme, kenne sie, aber ich weiß nicht, wer es ist, dem sie gehört.
»Danke, Dr. Cockerell«, sagt eine andere Stimme. Jonathan, er ist da. Er ist immer da. Es ist gut.
Ich bin zu müde, um zu lächeln oder die Augen zu öffnen. Die Kalte Stelle sendet ständige, eisige, drückende Kälte durch meinen Kopf. Ich habe keine Schmerzen, aber es ist, als wäre mir mein Kopf zu klein, zu eng.
Ich höre meinen Atem. Schaukeln auf den Wellen. Schaukeln. Stimmen, leiser, ferner, unverständlich. Gemurmel. Zu Ende. Krankenhaus. CT. Seine Mutter anrufen. Zu Ende. Wenn die Schwellung nicht zurückgeht. Hirndruck. Zu Ende. Cortison, Drainage.
Zu Ende. Zu Ende. Sie haben es gewusst. Zu Ende. Ihnen gesagt. Schnell. Zu. Ende.
Jemand weint. Es ist weit entfernt, aber es zerrt an meinen Nerven. Ich tauche auf, widerwillig.
Es ist Nacht. Ein kalter, weißer Mond steht am Himmel und beleuchtet mein Zimmer wie ein Flutscheinwerfer. Ich setze mich auf und lege fröstelnd die Arme um mich. Winterkalt. Ich fühle mich schwach, aber gut. So gut habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.
Ich stehe auf, ziehe mir meine Hose, ein T-Shirt und dann n och ein warmes
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