Das Haus am Abgrund
Sweatshirt an. Es ist lausig kalt. Winter? Ich bin ein wenig desorientiert. Was für eine Jahreszeit haben wir? Herbst oder Winter. Wo ist meine dicke Jacke?
Ich gehe zum Bett zurück, um darunter nach meinen Schuhen zu suchen. Ich muss dringend zum Herrenhaus hinüber. Wenn ich zu spät komme, dann geschieht etwas Schreckliches.
Jemand sitzt auf dem Stuhl neben meinem Bett und sieht mich an. Reglos. Groß und dünn, schwarz gekleidet.
»Haben Sie mich erschreckt!«, entfährt es mir.
»Master Adrian«, sagt Azrael Moriarty und neigt den Kopf. »Ich freue mich, Sie so wohlauf zu sehen.« Er fährt mit einer pedantischen Handbewegung über den Zylinder, den er auf seinem Schoß hält wie ein Hündchen. »Wir können jetzt gehen«, sagt er.
»Wohin?«, frage ich zerstreut und fische auf dem Bauch liegend nach meinen Schuhen, die mal wieder ganz hinten unter dem Bett gelandet sind, wo meine Finger kaum noch hinreichen.
Er lacht. Ich habe ihn noch nie lachen hören; es klingt, als würden kleine Kiesel in einem Becher geschüttelt. »Sie stellen Fragen, Master Adrian«, sagte er. »Ich wäre dann so weit. Können wir?«
Ich tauche wieder auf, bürste den Staub von meinen Kleidern und niese. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, antworte ich gereizt. »Ich gehe jetzt hinüber ins Herrenhaus. Ich habe da etwas Wichtiges zu erledigen und ich muss mich beeilen. Sie können mitkommen oder hierbleiben, es ist mir egal, Mr Moriarty.«
Er zuckt enttäuscht die Achseln, sein langes, blasses Gesicht wird noch ein wenig länger. »Wie Sie meinen, Master Adrian«, sagt er fügsam.
Ich schnüre meine Schuhe und gehe zur Tür.
D raußen ist es noch kälter. Ich puste in meine Hände, aber mein Atem wärmt sie nicht. Über die Mauer, durch den dunklen Park. Ich beginne zu rennen, aber auch davon komme ich nicht ins Schwitzen.
Die inzwischen vertraute Silhouette von Heathcote Manor, schwarz vor dem schwarzen Himmel. Der Giebel verdeckt den Mond, aber das Licht, das er aussendet, beleuchtet die Umgebung so hell, dass ich keine Mühe habe, die Haustür zu finden. Ich steige die Stufen empor und öffne die Tür.
Die Halle liegt im Halbdunkel. In der Ferne murmeln Stimmen. Jemand weint. Ich schüttle mich unwillkürlich. Das erinnert mich an etwas, woran ich nicht denken will.
Ich räuspere mich. Rufe halblaut Novembers Namen. Warte und warte.
Eine Tür schlägt, dann höre ich Schritte, die sich nähern. Ich erkenne die schmale, helle Gestalt, die die Treppe hinunter auf mich zukommt. Langes Haar, hell wie Mondstrahlen. Helle Augen voller Trauer und Licht. Sie sieht mich an, ihr Gesicht verzerrt sich, sie beginnt zu weinen.
»November«, sage ich und gehe auf sie zu, strecke die Arme nach ihr aus. »Was hast du? Was ist passiert?«
Sie weicht zurück, will sich nicht trösten oder in die Arme nehmen lassen. »Geh weg«, sagt sie und schluchzt. »Geh weg!« Sie wendet sich ab.
»Was hast du?« Ich spüre eine Beklemmung, die mein Herz zu einem kleinen kalten Klumpen quetscht. »Warum weinst du? Was ist los?«
Sie reibt sich wütend und fest über die Augen. »Du bist nicht gekommen«, sagt sie erstickt. »Du bist einfach nicht gekommen, d u ... Verräter. Du Feigling, du – du ...« Sie stößt mich von sich, hebt die Hand, als wolle sie mich schlagen.
Ich greife nach ihrem Arm, fange die Hand ab, ziehe November an mich. Sie sträubt sich, drückt mich weg. »Lass mich los«, faucht sie. »Du dummer, großer Idiot!« Sie reißt sich los und fällt auf der untersten Treppenstufe zu einem weinenden Bündel zusammen. »Sie ist fort«, höre ich sie schluchzen. »Sie ist tot! Es ist der 3. November. Wo warst du, Adrian? Wo bist du gewesen?«
Mir wird noch kälter, mein Herzschlag verlangsamt sich, klingt wie eine dröhnende Trommel in meinen Ohren. »Was sagst du da? Ich verstehe nicht ... Wer ist tot?«
Sie hebt das tränenüberströmte Gesicht zu mir empor und schreit: »November! Meine Schwester ist tot!«
Ich bemerke, dass ich zurückweiche. Rückwärts tappe ich zur Tür. Sie sitzt doch da, dort vor mir, und spricht mit mir. Warum, warum, wie, weshalb ...?
Sie erkennt meine Fragen, die ich nicht aussprechen kann. Beginnt schrill und verzweifelt zu lachen. »Ich bin Sam«, höre ich sie sagen. »Samhain. Ich bin die Oktoberhälfte von uns beiden. Ich vor Mitternacht, sie nach Mitternacht. Deshalb musste sie sterben und ich muss ohne sie leben!«
Zwillinge? November hatte mir nie erzählt, dass Sam und sie
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