Das Haus am Abgrund
Glas von ihrer wunderbaren Erdbeerkonfitüre und sogar ein paar Scheiben vom Roastbeef, das wir gestern hatten. Ich finde, dass das ein sehr schöner Willkommensgruß ist!
Ich wurde sehr freundlich empfangen von dem neuen Mieter. Er bat mich herein und wir tranken Tee. Sein Sohn kam hinzu und wir haben angeregt geplaudert. Es sind gebildete und wohlerzogene Menschen, das ist angenehm.
Der Junge, er heißt ... Alan? Hadrian? Ich habe wahrhaftig sei n en Namen vergessen, wie ungeschickt von mir. Nun werde ich das Mädchen wohl mal ins Kutscherhaus schicken müssen, dass sie ihn unauffällig herausfindet und mir sagt. Wie unangenehm wäre es, wenn wir uns begegnen und ich wüsste ihn nicht anzureden!
Er hat ganz sonderbare Augen. Karamellfarben mit einem dunklen Rand um die Iris. Ein Licht brennt in ihnen, das ganz außergewöhnlich ist. Er ist kein auffälliger Junge, ein wenig blass, dunkelhaarig, nicht sehr groß, schlank. Eigentlich jemand, dem man in der Menge keinen zweiten Blick schenkt. Aber wenn man sich mit ihm unterhält, ist er ... besonders. Er hat ein wunderschönes Lachen und eine ganz erstaunlich tiefe Stimme für einen Jungen.
Wie alt mag er sein? Etwa so wie ich, vielleicht ein Jahr älter. Ich habe mich in seiner Gegenwart wohlgefühlt. Als würden wir einander schon lange, lange kennen.
Oh. Jetzt schreibe ich seitenlang über unseren Nachbarsjungen. Wenn das jemand liest!
7
ADRIAN
Mein Bett. Es schien zu schaukeln. Mir war übel und schwindelig. Wie war ich in das Bett gekommen? Ich hatte das Museum verlassen, war zum Cottage zurückgekehrt ... und dann? Was war dann geschehen?
Ich öffnete die Augen. Das besorgte Gesicht meines Stiefvaters. Seine Hand strich über meine Stirn. Ich riss unwillkürlich den Kopf beiseite, weil die Berührung mir einen unsäglichen Schrecken einjagte, den ich mir selbst nicht erklären konnte.
»Was ist passiert?«, fragte ich. Meine Zunge war so schwer, dass ich nuschelte.
Jonathan hob in einer ratlosen Geste die Schultern. »Wir waren im Arbeitszimmer, Toby hat mir eine Stelle aus seinem Manuskript vorgelesen, mit der er nicht zufrieden ist. Dann haben wir dich im Garten schreien hören. Du hast neben dem Steinhaufen gelegen. Bist du gestürzt? Tut dir was weh? Ich habe keine Verletzung gefunden.«
Ich strampelte, um mich aufzusetzen. Meine Knochen schienen aus Gelee und meine Muskeln aus Pudding zu bestehen. J onathan griff zu und half mir. »Toby ist auf dem Weg nach London«, sagte er. »Er hat morgen früh einen Termin im Verlag. Auf dem Rückweg will er bei Dr. Cockerell vorbeifahren und sie fragen, ob wir an deiner Medikation etwas verändern sollten.« Sein besorgter Blick wurde noch eine Spur düsterer. »Ich finde, dass es dir in letzter Zeit nicht gut geht.« Er räusperte sich, fuhr verlegen mit der Hand über sein Gesicht. »Hast du ... siehst du immer noch diese Wesen?«
Ich senkte den Kopf. Meine Finger zerrten an der Decke, mit der ich zugedeckt war. Ich hatte Jonathan vor einem halben Jahr von meinen Laren erzählt. Und von dem Joker. Was für ein Idiot war ich gewesen, darüber mit jemandem zu reden, auch wenn dieser Jemand Jonty war!
Ich mied seinen Blick, aber ich konnte ihn beinahe spüren. »Nein«, log ich. »Nein, das war nur eine Phase. Alles gut, Jonty. Wirklich. Bis auf die Kopfschmerzen.« Und den Joker. Den Roshi. Meinen Genius. Den Bestattungsunternehmer. Die alte Frau – die Liste wurde immer länger. Irgendwann würde ich vor lauter Laren und Lemuren die echten Menschen in meiner Nähe nicht mehr sehen, und das würde mich an den Ort bringen, wo die Wände aus Gummi und die Jacken mit extralangen Ärmeln ausgestattet waren. Falls ich bis dahin noch lebte.
»Ary?« Seine Hand berührte mich an der Wange. »Kann ich dir helfen?«
Ich schüttelte den Kopf und biss die Zähne aufeinander. Niemand konnte mir helfen. Aber jetzt gerade hatte mich die Angst in ihren Klauen, schüttelte mich durch, riss an mir wie ein Raubtier. »Jonathan«, stieß ich hervor, »verlass mich nicht. Bitte.«
Er hatte sich schon halb erhoben, sank auf den Stuhl zurück u nd griff nach meiner Hand. »Ich bin doch hier«, sagte er besänftigend.
»Nein. Nein, das meine ich nicht.« Ich zwang mich, ruhig zu atmen. Was war denn los mit mir? Wenn ich mich nicht zusammenriss, würde ich gleich losflennen wie ein Baby. Was war da draußen mit mir geschehen?
»Ich meine – geh nicht fort. Wie Maman.«
Ich erwartete, dass er protestieren würde,
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