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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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lachen, mich beruhigen ... aber er schwieg, und das machte mir nun richtig Angst. Ich riss die Augen auf und starrte ihn beschwörend an.
    Er saß da, ruhig und breit, mit gesenktem Blick und nachdenklicher Miene. Jonathan war in den letzten Jahren mein Fels gewesen, an den ich mich hatte klammern können, wenn die Strömung zu stark wurde, wenn es stürmte, wenn die Brandung mich mit sich reißen wollte. Wenn er nun auch ging, wenn er wirklich fortging ...
    Er blickte auf und sah mich ernst an. »Wir haben es im Moment nicht leicht miteinander, Toby und ich«, sagte er. »Es tut mir leid, dass du davon überhaupt etwas mitbekommen hast. Wir haben uns sehr bemüht, es dich nicht spüren zu lassen.«
    Ich fröstelte und zog die Decke höher. »Wie schlimm ist es?«
    Er beugte sich vor und umarmte mich fest. »Hab keine Angst«, sagte er leise. »Ich gehe nicht weg von euch. Wenn Toby mich loswerden will, müsste er dazu die Axt benutzen.« Er lachte, aber mir fuhr ein eiskalter Schreck durch die Knochen. Ich japste und zuckte zurück. Bilder. Bilder voller Blut und Gewalt. Ein zerstückelter Körper und ein blutiger Kopf ohne Augen. Die höhnisch winkende Hand eines Toten. Der am Ast baumelnde Mann. Ich schlug die Hände vor die Augen, um die Bilder d raußen zu halten, aber sie waren in mir, eingebrannt, in mein Bewusstsein eingeätzt, lodernd und kalt zugleich. Ich bemerkte, dass ich zu hyperventilieren begann und dass Jonathan mich mit sicheren Handgriffen zum Liegen brachte und meinen Brustkorb massierte, während er beruhigend auf mich einredete. Ich verstand in meiner Panik keines seiner Worte, aber der Klang seiner Stimme holte mich nach und nach wieder zurück.
    Ich erinnerte mich, was Dr. Cockerell mir über ruhige, tiefe Atmung beigebracht hatte, und zwang mich dazu, auch wenn das Tier in mir nach Luft gierte, nach Sauerstoff schrie, hecheln wollte, Luft in die ohnehin schon vollen Lungen pumpen, weil es zu ersticken fürchtete.
    Langsam. Tief. Ruhig. Nicht denken. Nicht an den Mann im Baum, nicht an den auf dem Boden. Und während ich diese Bilder wegschob, sie mit Gewalt an den Rand meines Bewusstseins drängte, erkannte ich, dass die beiden Toten nicht Toby und Jonathan waren. Ich kannte sie nicht, keinen von beiden. Es waren fremde Gesichter, mir vollkommen unbekannte Menschen.
    »Es geht wieder«, keuchte ich, und meine eigene Stimme klang mir fremd. »Danke.«
    Jonathan richtete sich auf und sah mit schräg gelegtem Kopf auf mich herab. »Möchtest du schlafen?«
    Wollte ich schlafen? Ich fürchtete mich ein wenig vor den Bildern, mit denen ich dann allein sein würde. Ich rieb mir über die Kalte Stelle, als könnte die Berührung die Bilder vertreiben.
    Jonathan runzelte die Stirn. »Hast du Schmerzen?«
    Nein, ich hatte keine Schmerzen. Jedenfalls nicht mehr als normalerweise. Ich schüttelte den Kopf. »Du brauchst nicht hierzubleiben«, sagte ich. »Ich werde ein bisschen dösen.«
    E r nickte erleichtert, beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss. Das hatte er seit Jahren nicht mehr getan – ich musste ihn wirklich in Angst und Schrecken versetzt haben. Ich rieb mir verlegen über den Mund. Er lächelte schief und legte kurz seine große Hand auf die Kalte Stelle. Es tat gut. »Ruf mich, wenn du etwas brauchst.«
    Ich dümpelte eine Zeit lang auf der Oberfläche des Schlafes wie ein Boot, das sich von der Leine gerissen hat. Das Rauschen des Atlantiks war so beruhigend wie das Summen einer Stimme. Das Meer und der Wind erzählten mir Geschichten vom Fortgehen und Anderswo-Ankommen, von fernen Ufern und geheimnisvollen Tiefen, von Wolken, die hoch oben über allem anderen durch den Himmel ziehen und sich am Ende ihrer Reise in Tränen und Nebel auflösen.
    Ich wurde ganz melancholisch davon, aber es war ein gutes Gefühl, nicht schneidend und scharf, sondern weich wie der Regen und verschwommen wie Frühnebel über einer Wiese – einfach angenehm.
    Ich seufzte, drehte mich auf die Seite und legte die Wange in die Hand. Blasse Augen betrachteten mich ohne Regung. »Master Adrian?«, flüsterte er.
    Moriarty saß auf dem Stuhl neben meinem Bett, die Hände in grauen Handschuhen akkurat auf seinen Oberschenkeln ausgerichtet. Der Hut neigte sich, als Moriarty sich ein wenig vorbeugte und wisperte: »Es ist wirklich dringend. Ich belästige sie nur sehr ungern erneut, Master Adrian, aber wenn Sie mir kurz Ihr Gehör schenken könnten ...« Er sah mich erwartungsvoll und hoffnungslos zugleich an.
    I

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