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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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begann. In letzter Zeit war ich empfindlich wie ein Baby. Gut, dass mich keiner sehen konnte, wie ich mich beinahe übergab, bloß weil es nach faulem Fisch roch.
    Milton Skeggs Schuppen war der einzige, dessen Tür noch in den Angeln hing – ansonsten sah er nicht weniger baufällig aus als die anderen. Ich erkannte ihn daran, dass neben ihm ein rostiger Campingbus stand – das, was Lizzie so hochtrabend als »Wohnmobil« bezeichnet hatte.
    Also ging ich über den mit Schutt und Müll übersäten Pfad auf den Schuppen zu. Ich hörte das Glucksen des Wassers an der zerbröselnden Kaimauer und die fernen, heiseren Schreie der Möwen. Nichts regte sich. Ich klopfte ein-, zweimal an die Tür, und als niemand antwortete, ging ich um den Schuppen herum. Auf der Wasserseite war ein kleines Fenster, an das ich mein Gesicht presste, um einen Blick ins Innere zu werfen. Aber das Glas war so schmutzig und blind, dass ich nichts erkennen konnte.
    I ch drehte mich um und musterte das Gelände. Der Wind vom Meer frischte auf und bewegte den Müll, der überall herumlag. Plastik raschelte und Papierfetzen trieben über den Boden. Ich bemerkte, wie müde ich war. Die Wand des Schuppens war sonnenwarm, ich lehnte mich dagegen und ließ mich in die Hocke rutschen. Dies hier war ein windgeschützter, warmer Winkel. Ich legte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Ein paar Minuten ausruhen. Schön. Still.
    »Im Meer des Lebens,
    Meer des Sterbens,
    in beiden müde geworden,
    sucht meine Seele den Berg,
    an dem alle Flut verebbt.«
    Ich zuckte zusammen. Der Roshi. Ohne meine Augen zu öffnen, sagte ich: »Was heißt das?«
    »Ein altes Gedicht aus meiner Heimat«, sagte der Roshi. »Einige Jahrhunderte alt. Um deine poetische Bildung voranzubringen, Êdorian.« Ich hörte, wie er sich neben mir bewegte. »Natürlich klingt es auf Japanisch viel besser. Und es lässt sich auch nicht sonderlich gut in eure armselige und unmusikalische Sprache übersetzen.« Er summte ein paar Töne, die wie fallender Regen klangen.
    Sein Summen schläferte mich ein.
    Ein grober Stoß gegen die Schulter holte mich in die Realität zurück. »Roshi, was soll das?« Ich riss die Augen auf und sah in das Gesicht eines ziemlich heruntergekommen wirkenden Mannes, d er mich wütend anstarrte. Er hatte einen Knüppel in der Hand, mit dem er mich jetzt wieder anstieß.
    »Was treibst du hier? He?« Ein dritter Stoß. Ich versuchte, den Stock festzuhalten, aber er zog ihn blitzschnell zurück und hob ihn, als wollte er ihn mir über den Kopf schlagen. »Schnüffelst du hier herum? Wolltest du einbrechen?« Der Stock sauste herab, aber ich war schon beiseitegerollt und kauerte jetzt auf Händen und Knien neben der Ecke des Schuppens.
    »Ich hab nicht geschnüffelt.« Ich konnte sehen, dass er mir nicht zuhörte. Sein Gesicht war dunkel vor Wut und voller Falten. Ich konnte seinen Atem riechen, scharf, nach Alkohol. Er holte wieder aus.
    »Mann, ich hab nichts ...« Während ich versuchte, ihn zu beschwichtigen, krabbelte ich hastig rückwärts. »Ich bin kein Einbrecher. Eliette Burges schickt mich!«
    Der Stock knallte gegen die Wand des Schuppens. Und noch einmal. Dann dämmerte dem Mann, was ich gesagt hatte. Er ließ den Knüppel sinken und sah mich misstrauisch an. »Eliette vom Museum?«
    »Sie sind Mr Skegg?«
    Er stemmte den Stock in die weiche Erde und lehnte sich dagegen. »Du bist kein Dorfjunge.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich hab dich noch nie hier gesehen.« Ich rappelte mich langsam auf, behielt ihn aber gut im Blick. Im Moment schien er zwar nicht mehr auf mich losgehen zu wollen, aber ich wollte nicht unvorsichtig werden.
    »Meine Eltern und ich sind nur Gäste im Dorf«, sagte ich. »Wir wohnen im Kutscherhaus. Sind Sie Milton Skegg?«
    Er starrte mich weiter an. Wie alt mochte er sein? Auf den ers t en Blick hatte ich ihn für uralt gehalten, aber jetzt, wo er ruhig dastand, wirkte er auf einmal jünger – vielleicht so alt wie Jonathan. Er sah aus wie ein Penner, mit zotteligen grauen Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, zerknitterten und schmutzigen Kleidern und einem Gesicht voller Ecken und Kanten. Er roch nach Schnaps, Zigaretten und Schweiß. Seine Finger waren nikotingelb, und ihm fehlte ein Schneidezahn, was ich sah, als er wieder den Mund öffnete.
    »Deine Eltern«, sagte er. »Die beiden Schwuchteln meinst du?«
    Ich biss die Zähne zusammen. »Ich meine meinen Vater und seinen Lebensgefährten.« Das kam

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