Das Haus am Abgrund
den Bauch!«
Ich hob besänftigend die Hand. »Regen Sie sich nicht auf, Mr Skegg. Ich will Ihnen doch nichts wegnehmen. Aber das war kein guter Deal, eine ganze Flasche erstklassiger Gin gegen eine Seite wirres Gekritzel, das ich kaum entziffern kann.«
Er senkte die Lider und saß eine Weile mit zusammengekniffenen Lippen da. Ich wartete. Der Roshi hockte neben mir auf einer Kiste und betrachtete seine grünen Schuhe. »Das wäre jetzt eine gute Gelegenheit, einfach zu gehen«, sagte er sanft.
Ich erwiderte nichts.
»Das hier gibt nur großen Ärger, du weißt es«, fuhr er hartnäckig fort. »Geh nach Hause, Êdorian. Stell die andere Flasche wieder zurück. Vergiss das Haus und seine seltsamen Bewohner. Sei glücklich.«
Ich konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. Milton riss die Augen auf. »Also gut«, sagte er. Bei den Zischlauten sprühte ein wenig Speichel durch die Luft, ich wich unwillkürlich zurück. »Also gut. Du bringst mir hiervon noch zwei Flaschen mehr und i ch lass dich in meine Kiste gucken. Du darfst dir drei ... nein, zwei Hefte aussuchen. Und einen Ordner mit Zeitungsauschnitten gebe ich umsonst dazu.« Er hob die Hand. »Geliehen! Nicht geschenkt!«
Ich begann zu feilschen. Der Roshi seufzte und verschwand. Schließlich hatten wir uns geeinigt: Ich würde sechs Flaschen bringen und dafür so viel Material aus der Kiste nehmen dürfen, wie ich in einen Schuhkarton hineinbekam.
Sechs Flaschen. Auf dem Heimweg dachte ich fieberhaft darüber nach, wie ich noch fünf von den Flaschen aus dem Schrank nehmen konnte, ohne dass es auffiel. Die eingewickelten konnte ich auspacken und durch Wasserflaschen ersetzen. Die anderen ... ich würde sie umfüllen müssen. Hoffentlich nahm Skegg sie auch in Zahlung, wenn der Gin nicht in der Originalverpackung daherkam. Er brachte es fertig und zog mir dafür wieder was ab. Am besten nahm ich gleich eine Flasche mehr mit, sicherheitshalber.
*
In der Küche werkelte unsere neue Haushälterin, Ms Dickins. Sie hatte das Radio laut gestellt, spülte Töpfe und sang dazu. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Toby hasste das. Er würde irgendwann aus seinem Zimmer schießen, das Radio ausstellen und die Tür knallen, wenn er zurück in sein Arbeitszimmer stürmte. Vielleicht sollte ich Ms Dickins besser vorwarnen. Ich ging in die Küche, sagte »Hallo« zu ihr und kniete mich neben den Korb mit den leeren Wasserflaschen. »Ich nehme mir welche«, sagte ich der Ordnung halber.
Sie nickte lächelnd und sang weiter. Ich brachte es nicht übers H erz, sie bei ihrer Spüloper zu stören. Aber ich konnte sie auch nicht ahnungslos in ihr Unheil rennen lassen. Also riss ich die Augen auf, zog die Brauen hoch, deutete in die ungefähre Richtung von Tobys Arbeitszimmer und legte einen Finger auf die Lippen. Sie lächelte mich völlig verständnislos an, nickte und sang noch lauter.
Gut, ich hatte es versucht. Wahrscheinlich war es im Dorf längst rum, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hatte, und sie hielt mich jetzt für einen harmlosen Irren.
Ich nahm sechs leere Flaschen und verzog mich. Den Austausch würde ich erst heute Nacht vornehmen können. Am besten stellte ich mir den Wecker. Ich ging auf mein Zimmer, schloss die Tür, schob die Flaschen unter mein Bett und legte mich hin. Müde. Schrecklich müde. Als hätte ich wer weiß was getan. Als wäre ich den New-York-Marathon gelaufen oder so.
Der Gesang aus der Küche brach plötzlich ab. Wenig später knallte eine Tür.
Ich schlief nicht, lag nur da und ließ meine Gedanken treiben. Das wirre Gekritzel aus dem Heft ließ mich nicht in Ruhe. Jemand hatte offensichtlich in großer Angst geschrieben oder unter schrecklichem Druck, oder er war dabei gewesen, den Verstand zu verlieren.
Dinge im Dunkeln. Ungeheuer im Keller. Monster hinter den Tapeten. Geister in den Gängen und namenlose Schreckgestalten, die sich in den Schränken versteckten. Albernes Zeug, hätte ich früher gedacht. Früher, bevor meine eigenen Lemuren anfingen, mich zu verfolgen.
Die Familie war verflucht, stand dort geschrieben. Es gab keinen Ausweg, keine Rettung. Feuer. Alles niederbrennen. Aber s elbst dann würde das Schreckliche wieder auferstehen, wie Phönix aus der Asche steigen und triumphieren. Keine Rettung, solange noch ein Mitglied der Familie lebte.
November Vandenbourgh war ein Mitglied der Familie.
Ich starrte an die Decke, die sich im immer trüber werdenden Tageslicht mit tanzenden Schatten überzog. Die Bilder
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