Das Haus am Abgrund
an den Wänden starrten mich an. Ich mochte das Gefühl, dass sie mich beobachteten. Es war beruhigend. Solange sie mich anblickten, war ich am Leben.
Ich sank ein wenig tiefer. Stellte mir vor, wie Heathcote Manor früher einmal innen ausgesehen hatte. Groß, düster, voller Schatten. Aber auch irgendwie prachtvoll, mit dunklen, schweren Möbeln und dichten Vorhängen aus Samt, mit goldenen Bilderrahmen und Lüstern überall. Ich konnte es regelrecht sehen, wie in einem Film. Da war eine breite Treppe und über ihre Stufen schwebte eine wunderschöne junge Frau auf mich zu. Sie reichte mir die Hand, lächelte, sagte etwas ...
Der Wecker riss mich aus dem Schlaf. Ich stellte ihn mit einer ungezielten Handbewegung ab, die das Ding auf den Boden beförderte, und lag eine Weile da, unfähig, mich zu rühren. Es war stockdunkel. Was tat ich hier? Ich war angezogen. Warum lag ich angezogen auf meinem Bett und warum hatte ich mich mitten in der Nacht wecken lassen?
Dann fiel es mir ein. Ich setzte mich auf und rubbelte kräftig mit den Handballen über meine Augen. Nachtwächter wäre kein Job für mich.
Ich stand auf, holte die Wasserflaschen unter dem Bett hervor und ging im Geiste noch einmal die nötigen Schritte durch. E rst die Flaschen in den Verpackungen austauschen. Dann die anderen mitnehmen, in meinem Zimmer – nein, in der Küche, da gab es einen Trichter – umfüllen, dann den Rest austauschen. Die Flaschen hierherbringen und im Kleiderschrank verstecken. Okay.
»Super Plan«, wisperte jemand in mein Ohr. Jeannie. Sie saß hinter mir auf der Bettkante und feilte kauend ihre grellvioletten Nägel. Ihr Haar, in dünne, feste Rastalocken gedreht, war heute giftgrün mit roten Strähnen.
»Du siehst aus wie ein Pfefferminzbonbon«, sagte ich, als ich wieder Luft bekam.
Sie grinste. Schlug die Beine in den zerfetzten Netzstrumpfhosen übereinander und wippte mit den Rangers. »Du bist auf dem besten Weg, ein Krimineller zu werden«, sagte sie und blies eine Kaugummiblase, ließ sie platzen und kaute weiter.
»Blödsinn. Das Zeug wird niemand vermissen.«
»Dein Wort im Ohr der zuständigen karmischen Aufsichtsbehörde«, erwiderte sie fröhlich. »Mach weiter so, du wirst es noch verdammt weit bringen.«
»Du hörst dich langsam an wie der Roshi«, flüsterte ich. Ich musste flüstern, sonst hätte ich nämlich gebrüllt. Sie brachte mich einfach zur Weißglut. Mussten sie sich immer in mein Leben einmischen und mir Moralpredigten halten? Es waren nur Halluzinationen, verdammt!
Sie zuckte die Schultern. »Ich bin genauso gut der Roshi wie er«, sagte sie ein wenig beleidigt. »Du produzierst schließlich all diese bescheuerten Vorstellungen von uns. Kann ich was dazu?«
Ich versuchte gar nicht erst, das mit ihr zu diskutieren. Ein nasses Stück Seife war Schmirgelpapier im Vergleich mit meinen L aren, wenn ich mit ihnen darüber reden wollte, wer oder was sie eigentlich waren. Wie hieß die Yoga-Übung noch mal? Pudding an die Wand nageln, genau.
Deshalb ließ ich Jeannie einfach sitzen, wo sie saß, und ging mit meinen Flaschen zur Tür. Sechs von den Dingern waren kaum ohne Klirrgeräusche zu transportieren.
»Nimm den Rucksack, Gonzo«, rief sie mir nach.
Ich knurrte und folgte ihrem Rat, während sie breit grinsend auf meinem Bett saß. Es kostete mich einiges an Überwindung, die Tür nicht hinter mir ins Schloss zu knallen.
Der »Einbruch« lief dann wie am Schnürchen. Ich entfernte die Verpackung von den beiden Flaschen, wickelte das Papier um zwei Wasserflaschen und stellte sie in den Schrank. Dann griff ich mir vier Ginflaschen, trug sie in die Küche, füllte den Gin in die Wasserflaschen und hielt die Ginflaschen unter den Wasserhahn. Schraubverschluss drauf, gut abtrocknen, fertig. Alles wanderte zurück in den Schrank, ich nahm noch eine zusätzliche Flasche als Reserve, rückte alles ein Stückchen weiter auseinander, damit keine Lücken entstanden, und schloss den Schrank wieder ab. Schlüssel unters Regalbrett kleben, Rucksack schultern (danke, Jeannie), ein letzter prüfender Blick, Licht aus, Tür zu. Ab in mein Zimmer, den Rucksack mit den Flaschen ganz hinten in den Kleiderschrank schieben, ein paar Klamotten darüber – fertig.
Ich ging vor der geschlossenen Schranktür in die Knie und schnappte nach Luft. Mein Herz hämmerte und die Kalte Stelle schien dem absoluten Nullpunkt einen Besuch abstatten zu wollen. Ich drückte die Hand gegen meine Schläfe und schloss die
Weitere Kostenlose Bücher