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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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sagte ich. »Ich hab nicht so toll geschlafen, aber sonst ist alles in Ordnung.«
    Seine Hand berührte sacht mein Handgelenk. »Wegen des Mädchens?«
    I ch wusste einen Moment lang nicht, wovon er sprach. Als ich aufblickte, war da so ein Ausdruck in seinem Gesicht, dass ich ihm beinahe alles erzählt hätte – von Milton Skegg, den geklauten Flaschen, von Moriarty und von unserem Nachbarhaus, das eine solche Faszination auf mich ausübte, dass ich kaum noch an etwas anderes denken konnte. Aber der Impuls verflog. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich hatte bloß Kopfschmerzen.«
    Er zog seine Hand zurück und nahm die Tasse. »Sie hatte einen Freund dabei. Diesen Jungen aus dem Sailors .«
    Ich nickte. Es interessierte mich nicht. Nein, natürlich stimmte das nicht. Ich hatte nur entschieden, dass es besser wäre, wenn es mich nicht interessierte. Der Junge war älter als ich und größer und kam gut bei den Mädchen an – jedenfalls nahm ich das an, denn er benahm sich so wie ein Junge, der gut bei Mädchen ankam und das auch ganz genau wusste.
    Er wartete auf eine Antwort von mir, also lächelte ich so cool wie möglich und zuckte mit den Schultern. »Ja, und?«
    Jonathan hob verwundert die Brauen. »Ich dachte ... na gut. Hab mich geirrt.« Er stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Das war eigentlich jetzt Ms Dickins’ Aufgabe, aber die kam erst um elf, und Jonathan konnte es nicht leiden, wenn der Küchentisch mit Zeugs vollgerümpelt war. Also half ich ihm dabei, alles in die Spüle zu stellen, und verzog mich dann auf mein Zimmer. Als ich hörte, wie Jonathans Tür zufiel, schnappte ich mir meinen Rucksack und sah zu, dass ich Land gewann.
    Es regnete schon wieder. Mein Kapuzenpulli fühlte sich klamm und kalt an, aber ich ignorierte es. Die Riemen meines Rucksacks schnitten mir in die Schultern. Ich wäre am liebsten gerannt, so n eugierig war ich auf das, was ich in Skeggs Kiste alles finden würde. Ich hatte einen kurzen Blick auf zwei Zeitungsausschnitte erhaschen können, bevor er den Deckel wieder zugeknallt hatte, und die Überschriften hatten »Mord« und »grauenhafte Funde« verhießen. Es rieselte mir kalt über den Rücken, wenn ich daran dachte. Morde. Grauenhafte Funde. Toll. Hoffentlich ließ er mich selbst aussuchen, was ich mitnehmen konnte.
    Ich konnte nicht aufhören, an das Haus und an die Familie zu denken, der es gehörte. An November zu denken. Der Gedanke an sie verfolgte mich und zog mich immer wieder dort hinüber. Ich wollte ihre Stimme hören und ihre Hand halten. Ich wollte mit ihr unter dem Magnolienbaum sitzen und einen Sommer lang glauben, dass wir zusammengehörten wie die beiden Hälften eines Apfels. Für alle Zeit, November und Adrian ...
    Ich stolperte über einen Stein und war mit einem Ruck wieder in der Gegenwart. Was für seltsame Gedanken trieben da durch meinen Kopf? Ich kannte November doch gar nicht näher. Woher stammten diese Bilder von uns, wie wir unter der großen Magnolie saßen oder im Mondlicht Hand in Hand an der schroffen Klippe hinter dem Haus standen?
    Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, lenkte Jeannie mich ab. Sie spazierte in ihren Goth-Braut-Stiefeln neben mir her und hielt ihr Gesicht in den Regen. Ab und zu kam ihre Zunge hervor, leckte ein paar Tropfen auf und verschwand wieder. Jeannie blieb stumm. Das war sehr ungewöhnlich.
    »Na?«, sagte ich deshalb nach ein paar Minuten.
    Sie warf mir einen schrägen Blick zu. An ihrer Nase hing ein fetter Regentropfen, und ihre Rastalocken sahen aus, als wären sie mit Wassertropfen bestickt.
    » Was ist, warum quasselst du mich nicht tot wie sonst?« Ich begann ärgerlich zu werden. Schlimm genug, wenn du Laren um dich herumschwirren hast. Aber wenn sie nur starren und nichts sagen, sind sie sogar noch nerviger.
    Sie zuckte die Achseln, kramte ein Päckchen Kaugummi aus der Tasche, wickelte einen Streifen aus seiner Folie und steckte ihn in den Mund. Sie hielt mir das Päckchen hin. Ich hätte fast danach gegriffen. »Danke«, sagte ich. Es widerstrebte mir, etwas von jemandem anzunehmen, den ich mir nur einbildete. Das würde letztlich damit enden, dass ich imaginären Kaugummi kaute. Ein erschreckender Gedanke.
    »Ich würde da nicht hingehen«, sagte Jeannie. Ich zuckte zusammen, weil ich mich mittlerweile an ihr Schweigen gewöhnt hatte.
    »Wieso?«
    Sie zuckte wieder die Achseln. Kaute. Stapfte in eine tiefe Pfütze, dass das Wasser bis zu meinem Gesicht hochspritzte, und als

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