Das Haus am Abgrund
Augen. Es war kein Schmerz, es war etwas viel Schlimme r es. So musste es sich anfühlen, wenn man starb. Der Sog eines schwarzen Lochs. Der Ereignishorizont, dem du entgegenfällst, während sich dein Körper in die Länge zieht und die Zeit aufhört. Unendlich große Rotverschiebung. Ort ohne Wiederkehr. Du befindest dich gleichzeitig an jedem Punkt des Universums. Dein Geist zersplittert, dein Körper löst sich auf. Kein Schmerz. Aber du wünschst ihn dir.
Ich fand mich auf dem Boden wieder. Meine Wange war gegen eine harte Diele gedrückt, ich starrte unter den Schrank. Die Welt kehrte langsam zurück. Mir tat jeder Knochen weh und die Kalte Stelle pulsierte mit scharfen Schmerzspitzen. Der Joker lachte. »Gerade noch mal von der Schippe gesprungen«, sagte er vergnügt. »Hatten dich fast. Kleiner Vorgeschmack, Adrian. Stell dir das noch tausendmal schlimmer vor ... und für alle Ewigkeit. Für immer und immer und immer. Du weißt doch: Die Zeit vergeht dort nicht mehr. Fröhliches Sterben, mein Junge!«
Ich schaffte es, mich auf den Rücken zu drehen. Wollte ihm ins Gesicht sehen. Nein, ins Gesicht spucken! Aber er war weg. Stattdessen saß der traurige Bestattungsunternehmer auf dem Hocker neben meinem Bett und hielt den Wecker in den Händen, den ich vorhin zu Boden befördert hatte. Reger Besuchsverkehr heute. Ich schloss die Augen und ließ den Schmerz durch mich hindurchgehen wie eine Welle. »Was wollen Sie?«, fragte ich.
Er antwortete nicht, und deshalb öffnete ich die Augen wieder, um ihn anzusehen. Er sah noch langgesichtiger, blasser und trauriger aus als sonst. Stumm streckte er die Hand aus und reichte mir den Wecker. Ich verschränkte die Arme. Er zog die H and wieder zurück, blickte auf das Zifferblatt, seufzte. »Master Adrian«, sagte er mit seiner papiertrockenen Stimme, »die Zeit ... die Zeit!« Er nickte bedeutungsvoll.
Ich hatte keine Geduld für seine umständliche Art. »Was wollen Sie?«, wiederholte ich. Es klang scharf und so war es auch gemeint.
Moriarty zuckte zusammen und stellte den Wecker hastig zurück. Er rieb seine langen Finger raschelnd gegeneinander. »Ihre Nachforschungen haben Unmut erweckt, Master Adrian«, sagte er. »Man sieht es nicht gerne, dass Sie das Dorf aufscheuchen. Dies hier ist ein labiles Gleichgewicht, das durch einige einschneidende Manipulationen auf der Schicksalsebene erreicht wurde. Sie bringen alles durcheinander, Master Adrian.« Er sah mich mit seinen glasklaren Augen an, und ich glaubte, einen Vorwurf darin zu lesen. »Ich habe Sie gewarnt«, fuhr er fort. »Wollen Sie nicht Ihre letzten Tage in Frieden und Ruhe genießen? Wollen Sie wirklich sich und die Menschen, an denen Ihnen gelegen ist, in Gefahr bringen? Man hat mich gesandt, um Sie eindringlich vor den Konsequenzen Ihrer Neugier zu warnen, Master Adrian.«
Ich lauschte seinem Sermon mit steigendem Ärger. »Mr Moriarty«, erwiderte ich, als er endlich verstummte, »ich habe Ihr wirres Geschwätz von Schicksal und Verhängnis wirklich über. Sagen Sie klipp und klar, was Sie wollen, und dann lassen Sie mich endlich in Ruhe!«
Er senkte den Blick und rieb mit einer ziellosen Bewegung über seine Hosenbeine. Ich konnte seinen Atem hören, der langsam und zischend war wie ein kaputter Blasebalg. »Es tut mir leid«, sagte er flüsternd. »Ich habe Sie verärgert, das lag nicht in m einer Absicht. Ich bin nur der Bote, Master Adrian. Nur der Bote ...«
Seine Stimme verklang. Ich musste blinzeln, und als ich die Augen wieder öffnete, war er fort. Was für ein anstrengender Lemur – da war mir fast der Joker lieber.
15
Gleich am nächsten Vormittag schleppte ich den leise klirrenden Rucksack voller Flaschen hinunter zum Pilchards’ Bay.
Jonathan hatte mich beim Frühstück fragend angesehen. »Alles okay?«
Ich nickte und vertiefte mich in die Zeitung. Beziehungsweise ich tat so als ob. Jonathans Blick schien sich mitten ins Zentrum meines schlechten Gewissens zu bohren. Er fragte nicht weiter, trank seinen Kaffee und blätterte in einem Stapel Ausdrucke herum. Tobys neues Kapitel wahrscheinlich.
Mein Vater, der finster grübelnd Löcher in die Luft gestarrt und nebenbei seinen Toast gegessen hatte, stand irgendwann wortlos auf und verschwand wieder in sein Arbeitszimmer. Kurz darauf hörte ich das leise Klackern seines Keyboards.
Jonathan stellte mit einem energischen Knall seinen Becher ab und beugte sich vor. »Was ist los?«
Ich wich seinem Blick aus. »Absolut nichts«,
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