Das Haus am Abgrund
stockstarr neben einem Schutthaufen. Ein Schleier. Weiße Rosen. Eine Braut, hier in diesem Abbruchhaus?
Ich blinzelte, rieb mit den Handballen über meine Augen. Nova, in ihrem hellen Sommerkleid. Was ich für Schleier, Brautkleid und Rosen gehalten hatte, waren durch die einfallenden Sonnenstrahlen hervorgerufene Lichter und Reflexe. Jedenfalls r edete ich mir das ein. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, um die Übelkeit zu verjagen, und lief auf sie zu. »Nova, hier bin ich«, sagte ich atemlos. Was war los mit ihr? Warum hatte sie um Hilfe gerufen? Sie stand da und starrte an mir vorbei, und ihre Augen standen riesengroß und voller Schrecken in ihrem blassen Gesicht.
Ich nahm ihre Hand, berührte ihre Schulter. »Ich bin hier«, sagte ich noch einmal. »Komm, wir gehen hinaus.«
Sie riss mit einem Seufzen, das wie ein erstickter Schrei klang, ihre Hand weg und machte Anstalten, vor mir davonzulaufen. Ihr Blick ging durch mich hindurch, es war, als schaute sie auf eine völlig andere Szenerie. Es war gruselig. Ich redete auf sie ein, nahm noch mal ihre Hand, wollte sie zur Tür ziehen. Sie schrie, riss sich los und fiel im Umdrehen über einen der zerbröckelnden Ziegel, die überall herumlagen. Sie landete hart auf den Knien und fing an zu weinen.
Ich half ihr auf die Füße. Sie sah mich an, wischte mit der Hand über ihre Nase und blinzelte die Tränen weg. November hatte sich ganz offensichtlich über etwas zu Tode erschreckt.
»Gehen wir raus«, sagte ich. »Hier ist nichts Schlimmes. Nur Schutt.«
Sie hielt sich an mir fest, während wir hinausstolperten. Ich sah, dass ihr Kleid an den Knien schmutzig und zerrissen war, ihr linkes Knie war aufgeschürft und blutete. »Warte«, sagte ich, als wir auf der Treppe waren, und fischte ein zerdrücktes Paket Papiertaschentücher aus meiner Tasche. Dann stand ich da und wusste nicht, ob ich damit auf ihrem Knie herumfummeln durfte.
Sie lächelte und nahm mir das Päckchen ab. »Du bist mein Ritter«, sagte sie, zog ein Taschentuch aus der Packung und s puckte darauf. Dann tupfte sie das Blut von ihrem Knie und pulte ein paar Steinchen und Schmutz aus der Wunde. »Was hast du dort drinnen gesehen?«, fragte sie vorsichtig und sah mich von der Seite an.
Ich zögerte. »Für einen Moment sah es so aus, als würdest du ein Brautkleid tragen und einen Strauß Rosen in der Hand haben.« Ich lachte. »War nur das Licht. Tut es noch weh?« Ich deutete auf ihr Knie.
Sie sah mich unsicher an. »Halb so wild«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf, wie um einen störenden Gedanken wegzuwischen. »Das muss ich gleich noch richtig sauber machen. Zu Hause.« Sie gab mir die Taschentücher zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick war düster. »Ich war dort in dem Haus. Es war kein bisschen kaputt und sehr schön eingerichtet, und ich habe mich mit Leuten unterhalten, die meine Familie waren. Und dann stand ich auf einer Klippe im Mondlicht und plötzlich warst du hinter mir. Ich habe mich zu Tode erschreckt und geschrien wie ein Baby«, sagte sie. Sie senkte den Blick. »Das klingt total irre. Du musst mich für komplett durchgeknallt halten.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also legte ich den Arm um ihre Schultern und drückte sie an mich. Der Impuls kam aus heiterem Himmel, das hätte ich nicht gemacht, wenn ich darüber nachgedacht hätte. Sie machte sich ganz steif und sah angestrengt weg und ich ließ sie ganz schnell wieder los. »Sorry«, sagte ich. »Du bist nicht durchgeknallt. Ich finde dich toll.«
Sie wurde ein bisschen rot. »Danke«, sagte sie und räusperte sich. »Ich gehe dann mal nach Hause. Pflaster und so.«
»Wir haben einen Verbandskasten«, sagte ich.
S ie sah mich nicht an. »Nein, das ist lieb von dir, aber ich möchte wirklich nach Hause. Ich habe noch eine Verabredung.«
Wir gingen über das verwilderte Grundstück und kletterten über die Mauer. Dann brachte ich sie zum Gartentor und sah ihr noch hinterher, wie sie die Straße hinunterging, mit hoch erhobenem Kopf. Sie sah so entschlossen und gleichzeitig so schutzlos aus. Ich wäre am liebsten hinter ihr hergerannt, um ihr meine Begleitung ins Dorf anzubieten, als wäre das hier ein wilder Wald, in dem Räuber lauerten. Wie albern.
Stattdessen ging ich auf mein Zimmer und legte mich ins Bett, so müde, als hätte ich ein Abenteuer hinter mir und nicht bloß den Abstecher in eine leere Ruine.
Die Schublade mit ihrem gespenstischen Inhalt wollte
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