Das Haus am Abgrund
Auf wen?
W ährend ich mich das fragte und der Ekel vor all dem, was ich hier sah, langsam meine Betäubung durchdrang und mich mit klebrigen Fingern zu schütteln begann, richtete die Braut sich auf und sah mich an. Sah mich und blickte nicht durch mich hindurch, wie gerade eben noch. »Wer bist du?«, hörte ich sie fragen. Ihre junge Stimme klang verzerrt, wie aus einem schlecht eingestellten Radio. »Bist du der, auf den ich warte?«
Ich wollte zu ihr, ihr sagen, dass ich ganz sicher nicht der war, den sie erwartete, aber jemand hielt mich fest, eine Hand legte sich vor meinen Mund. »Ganz ruhig, Master Adrian«, flüsterte die raschelnde Stimme des Bestattungsunternehmers in mein Ohr. »Ganz ruhig. Das ist kein Ort, an dem Sie sich aufhalten sollten. Man wird auf Sie aufmerksam. Das ist nicht gut.«
Ich wehrte mich nur halbherzig gegen seinen erstaunlich eisernen Griff. Er hätte mich nicht warnen müssen. Jedes einzelne Härchen an meinem Körper stellte sich auf und meine Haut prickelte. Irgendetwas näherte sich, ich konnte es spüren. Es war nichts Gutes, was da herankam. Ich wollte es nicht sehen. Wirklich. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, es nicht sehen zu müssen.
Das Mädchen auf dem Thron richtete sich auf und blickte an mir vorbei zum Eingang des Gewölbes. Sie schien meine Gegenwart im gleichen Augenblick wieder vergessen zu haben. Ihre Haltung drückte Spannung, Erwartung und auch Angst aus. Ein immer stärker werdender Luftzug, der durch den Eingang wehte, ließ ihren Schleier flattern.
Winterkind , flüsterte die Luft. Winterkind , raschelte der Schleier und knisterten die trockenen Knochen. Winterkind , seufzte eine Stimme, die von überall und nirgends zu kommen schien.
D as Mädchen zog den Schleier vom Gesicht. Ich erkannte die hellen Haare und die blassgrauen Augen, das Gesicht mit den zarten, bebenden Lippen. »November«, rief ich und wollte zu ihr stürzen, um sie vor dem Flüstern, dem Wind und der Stimme zu retten. Aber beim ersten Schritt, den ich machte, erlosch das Licht, und ich stand in der schwärzesten Finsternis, die ich je erlebt hatte. Um mich herum tobte ein Sturm, der die trockenen Gebeine zum Klappern brachte. Der Lärm war ohrenbetäubend ... und irgendwo in all diesem Toben, Brausen und Klappern hörte ich eine Mädchenstimme voller Angst und Schmerz schreien.
Der Schrei schwillt an, wird schriller und so laut, dass er alles andere übertönt. Ich presse die Hände vor meine Ohren und gehe in die Knie. Lege die Stirn auf den Boden, zwischen all die modernden Knochen, knirsche mit den Zähnen, grabe meine Fingernägel in die Schläfen. Das ist schlimmer als alles, was ich je erlebt habe. Schlimmer als alles ...
Das schrille Kichern des Jokers kratzt durch meine Pein. Fingernägel auf einer Schiefertafel. Zähne, die auf Alufolie beißen. Der Joker tanzt um mich herum und singt, während er mit Schädeln jongliert. Ich schließe die Augen und wünsche mir den Tod. Jetzt. Bitte.
*
»Adrian! Adrian, bitte, bring mich hier raus!«
Nova. Sie klang so sehr um Fassung bemüht, rang so deutlich damit, nicht einfach nur vor Angst zu schreien, dass dieser Ruf m ich wie ein kalter Wasserguss aus meiner Starre riss. Ich hockte auf dem Boden und hatte die Stirn auf meine Knie gelegt. Anscheinend hatte genau in dem Moment, als ich das Haus betrat, der lauernde Schmerzaffe zugeschlagen und mich für ein paar Momente außer Gefecht gesetzt. Mir war schwindelig und übel. Ich hatte den Geruch von Moder und Schimmel in der Nase und einen fauligen Geschmack auf der Zunge. Bilder von weiß gekleideten Mädchen und finsteren Kellergewölben voller Menschenknochen tanzten in meinem Kopf einen grotesken Tanz. Ich drängte all das in eine Schublade meines Bewusstseins, die ich danach gut verschloss. Wieder rief Nova meinen Namen.
»Ich komme«, rief ich und rappelte mich auf. Alles drehte sich um mich, die Wände tanzten, der Boden schwankte wie ein Schiffsboden auf hoher See auf und ab. Ich blinzelte ein paar Mal, um einigermaßen klare Sicht zu bekommen. Die Schleier und Schlieren vor meinen Augen klärten sich. Ich stand in der ehemals herrschaftlichen Halle, mitten in dem Schutt, der langsam von Unkraut und Moos überwuchert wurde. Hoch über meinem Kopf im Zwielicht hörte ich Vögel durch das zerstörte Dach flattern. Ich drehte mich einmal um meine Achse und suchte nach November.
Blitze vor den Augen. Eine weiß gekleidete Gestalt in einem langen, altmodischen Kleid stand
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