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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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und strengte meine Augen an, um etwas zu erkennen. Wo war November?
    Das Licht wurde noch schwächer und glomm nur noch wie ein erlöschendes Streichholz. Die Dunkelheit griff mit modrigen Fingern nach mir. Ich öffnete weit die Augen, weil ich glaubte, eine Bewegung zu sehen. Es raschelte leise.
    Ein heller Schimmer tauchte in der rabenschwarzen Türöffnung auf. Ein Nebelstreif, der sich nach und nach zu einer menschlichen Gestalt verfestigte. Es war eine junge Frau, die ein weißes Kleid mit langer Schleppe trug. Sie hielt einen Strauß weißer Rosen in den Händen und hatte den Kopf gesenkt. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn ein Schleier verdeckte es. Eine Braut, wie in einem alten Film. Wie überaus seltsam. Das musste eins der Gespenster sein, von denen November vorhin erzählt hatte. Ich stand hier in einem finsteren, uralten Keller und beobachtete Geister? Wie verrückt war das?
    Ich sah zu, wie die Geisterbraut langsam eintrat und über den unebenen Boden schritt. Hinter ihr erschienen dunkle Gestalten, formlos, gesichtslos, die sie begleiteten. Einer trug ihre Schleppe, einer ging an ihr vorbei und schien ihr den Weg zu zeigen.
    W ährend ich das Schauspiel beobachtete, wurde es unmerklich immer heller im Raum. Die Braut kam so dicht an mir vorbei, dass ich die Berührung ihres ausladenden Kleides an meinem Arm spüren konnte. Da war nichts Geisterhaftes mehr an ihr und ihrer Begleitung. Die Rosen in ihrem Arm strömten einen betäubend süßen Duft aus. Der Schleier raschelte, ihre Schritte flüsterten über den Boden. Ich hörte das leise Murmeln ihrer Begleiter, die sich als ein jüngerer und ein älterer Mann entpuppten. Sie trugen Kleidung, die feierlich und altmodisch zugleich wirkte. Ich fühlte mich wie ein Zuschauer bei einem seltsamen Theaterstück.
    Die Braut blieb vor einem thronähnlichen Sitz stehen und legte nach einem kurzen Moment des Zögerns die Rosen auf die linke Seite des Throns. Dann drehte sie sich um und breitete die Arme aus. Der jüngere Mann nahm ihr den Umhang mit der langen Schleppe ab, der ältere richtete ihren Schleier. Immer noch konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen.
    Sie ließ sich auf den Sitz helfen. Dort richtete der ältere Mann ihr Kleid, bis es in schönen Falten über den Sitz und die Stufen fiel. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. Ihr Gesicht schimmerte bleich durch den dünnen Stoff des Schleiers. Sie legte ihre Hand auf den Arm des Mannes und beide schienen miteinander zu flüstern.
    Der junge Mann hatte sich zum Eingang zurückgezogen. Er trug den gefalteten Umhang über dem Arm und sah unglücklich und besorgt aus. Und dann, als hätte jemand den Ton angestellt, hörte ich, wie er sagte: »Wir sollten jetzt gehen, Vater. Der Mond steht beinahe im Zenith.«
    Der ältere Mann beugte sich noch einmal über die junge Frau i n dem weißen Brautkleid. Er küsste sie wieder auf die Stirn, legte dann seine Hände auf ihren Scheitel und sagte: »Danke.«
    Dann drehte er sich um und ging zu seinem wartenden Sohn. Ich konnte sehen, dass er Tränen in den Augen hatte. Der junge Mann nahm seinen Arm und verließ mit ihm das Gewölbe.
    Es war still. Ich wandte endlich den Blick von der ruhig dasitzenden Frau auf dem seltsamen Thron und sah mich um. Woher kam das Licht?
    Ich machte einen Schritt und noch einen auf die Braut zu. Meine Füße knirschten auf dem Untergrund, wieder knackte etwas wie ein morscher Zweig. Ich sah nach unten und erkannte, dass ich auf Knochen stand. Der ganze Boden war mit ihnen bedeckt. Hier und da konnte ich einzelne, noch zusammenhängende Gliedmaßen erkennen – einen Unterarm mit Hand, den Teil eines Brustkorbs mit Rippen und einem Stück Rückgrat, einen Unterkiefer ... einen Schädel, der mich angrinste. An ihm klebte noch Haar in hellen Strähnen. Ich schüttelte mich und machte unwillkürlich noch einen und noch einen Schritt auf den Thron zu. Die Knochen bedeckten den gesamten Boden, und, noch grausiger: Je näher ich dem Sitz kam, desto mehr Substanz bedeckte die Gerippe. Ich sah Stoff, Reste von Kleidern und Spitze, von Schleiern und Kränzen. Brautkleider, vermodert, zerrissen, voller Spinnweben und bräunlicher Flecken, Schimmel, Fraßstellen. Das hier war ein Grab, eine Stelle, an der Leichen einfach abgelegt und vergessen worden waren – und das, wie es aussah, schon seit Jahrhunderten!
    Und inmitten all dieser vermoderten Toten in ihren weißen Kleidern saß die Braut auf ihrem Thron und wartete ... auf was?

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