Das Haus am Abgrund
rötlichem Staub zerfiel.
Voller Erleichterung, als wäre die Last von Jahrhunderten von ihren Schultern genommen, drehte sie sich um, wollte Adrian zurufen, wie ungeheuer komisch sie das hier fand ...
... Taubenflügel streiften über ihre Lider. Sanft und weich. Das Gurren übertönte jedes andere Geräusch. Einen Moment lang war ihr schwindelig, sie fasste haltsuchend ins Leere, tastete um sich, fand den beruhigenden Griff einer Hand. Ihre Finger s chlossen sich um warme Haut. Der Druck fremder Finger ließ die Welt wiedererstehen. Die graue Wolke aus Federn, Schwindel, Gurren hob sich und ließ sie verwirrt und mit weichen Knien zurück. Sie lehnte sich in den Arm des jungen Mannes, der sie stützte. »Danke«, sagte sie atemlos. »Fast wäre ich die Treppe hinuntergefallen. Ich bin mit dem Absatz hängen geblieben.«
»Nichts passiert«, erwiderte er und ließ sie los. »Es war mir ein Vergnügen.« Er lächelte sie an. »Gehen wir wieder zu den anderen? Du schuldest mir noch einen Tanz.«
Er war so hübsch mit seinen dunklen Locken und den strahlend blauen Augen. Und wie gut ihm der dunkle Abendanzug stand! Sie nahm lächelnd den angebotenen Arm und ließ sich zurück in den Salon führen.
»Jules«, rief ihr Vater ungeduldig, »wo bleibt ihr? Wir wollten noch eine Partie Bridge spielen, habt ihr das vergessen?«
»Oh, Bridge«, flüsterte sie enttäuscht und setzte lauter hinzu: »Ihr braucht uns doch nicht, Mama und ...«
»Deine Mutter hat sich gerade zurückgezogen«, erwiderte ihr Vater. Er schnitt seine Zigarre an und begann sie mit konzentrierter Miene über einem langen Span zu rösten, den er am Kaminfeuer entzündet hatte. »Ihr war nicht wohl.«
Mama war es nie wohl. November seufzte und ergab sich in ihr Schicksal. Bridge. Wie langweilig.
Cousin Jules drückte unauffällig ihre Hand. »Wenn du an meiner Seite bist ...«, flüsterte er.
Sie wandte ihr Gesicht ab und tat so, als würde sie in den Garten blicken. In der Fensterscheibe spiegelte sich ihr erhitztes Gesicht. Unwillkürlich fuhr sie mit den Händen in ihr Haar, ordnete die Frisur. Alltags trug sie ihr Haar einfach zu einem Zopf gefloch t en, aber heute, zur Feier des Tages, hatte das Mädchen ihr die Haare hochgesteckt. Es sah fremd aus. Das war kein Kind, das aus dem dunklen Glas zurückschaute. Das war eine junge Frau, die bald ihren sechzehnten Geburtstag feiern würde. Der Tag, an dem die Braut der Vandenbourghs mit feierlichem Geleit all die Treppen hinab zu ihrem Bräutigam geführt wurde ...
»Worüber denkst du nach?«, hauchte Jules. Sein Gesicht tauchte neben ihr im Spiegel der Fensterscheibe auf. Er sah sie mit einem Blick an, der sie erröten machte. Sie senkte die Lider.
»Ich habe bald Geburtstag«, erwiderte sie.
Seine Hand legte sich wie zufällig auf ihre Schulter und liebkoste ihren Nacken. »Ich weiß. Dann bist du alt genug.« Er neigte den Kopf, als wollte er sie küssen.
»Nicht doch, Jules, Papa sieht uns«, wies sie ihn sanft zurecht. »Alt genug – wofür?«
»Dass ich bei deinem Vater um deine Hand anhalte.«
Ihr stockte der Atem. Er wollte wahrhaftig ...? Durfte er das?
Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn er schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir sind nur dem Namen nach Cousin und Cousine«, sagte er. »Unser Zweig der Familie ist mit dem euren nur über unsere Urururur…« Er unterbrach sich und lachte. »Ich weiß nicht, wie viele Uhren es waren. Aber eigentlich verbindet uns nur noch der gemeinsame Name.«
»Und der Umstand, dass du der Erbe bist, Jules«, warf Novembers Vater ein, der den letzten Satz wohl aufgefangen hatte. Er sah wohlwollend, wenn auch mit besorgt gekrauster Stirn auf die beiden jungen Leute. »Und ich wäre dir überaus verbunden, mein Junge, wenn du dich ein wenig mehr um deine Cousine Samhain kümmern könntest. Sie fühlt sich vernachlässigt.«
J ules verzog kurz das Gesicht, aber er tat es so, dass der ältere Vandenbourgh es nicht sehen konnte.
November senkte den Blick. Natürlich. Sie durfte nicht zulassen, dass Jules sich Hoffnung machte. Er war nicht der ihr bestimmte Bräutigam, auch wenn sie es sich wünschte, so sehr wünschte, dass ihr Herz zu zerspringen drohte vor Sehnsucht.
Tauben gurrten. Weiches. Graues. Gefieder. Schwindel.
Ihr liebster, geheimer Platz. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und ihren Haaren, aber sie liebte diese sanfte Gewalt. Sie ging zum Rand der Klippe, bis ihre Zehen nur noch Luft unter sich spürten, und lehnte sich gegen den
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