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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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die Luft zum Atmen nahm. Dieses heiße, brennende, wie Säure ätzende Gefühl, das ihre Eingeweide versengte und wie glühende Kohle in ihrer Kehle steckte. Was glaubte sie zu verstehen?
    »Ich verstehe«, sagte ihre Großmutter leise zum dritten Mal. Ihre faltige Hand legte sich für einen winzigen Moment federleicht auf Novembers Knie. »Lass uns allein, Eliette.«
    November verschränkte die Arme vor der Brust und wandte den Kopf ab. Eliette erhob sich gehorsam wie ein Kind, das von e iner Erwachsenen aus dem Zimmer geschickt wurde. Die alte Frau wartete, bis die Tür sich hinter ihr schloss, und sagte dann, ohne Novembers abweisende Haltung zu beachten: »Es wäre klug von dir, wenn du deinen Zorn auf mich für die Länge eines Gespräches vergessen könntest. Es gibt Dinge, die du wissen musst, und ich bin die Einzige, von der du sie erfahren kannst.« Sie sah November eindringlich an. »Wenn ich sterbe, stirbt deine Vergangenheit mit mir. Du bist dann allein.«
    November zuckte unwillkürlich zusammen. »Eliette ist hier«, entgegnete sie.
    »Eliette ist eine liebe, fürsorgliche Frau. Und sie hat keine Ahnung, was hier in St. Irais vor sich geht.« Die alte Frau hatte ihre Stimme erhoben, aber als November Anstalten machte aufzustehen, machte sie besänftigende Bewegungen mit der Hand. »Vergib mir«, sagte sie ruhig. »Ich bin nicht weniger zornig als du, November Vandenbourgh.« Sie rieb sich mit dem Handballen über die Augen.
    November zwang sich zu einer Antwort, denn ihre Großmutter schien sich nicht mit ihrem Schweigen zufriedengeben zu wollen. »Was willst du also von mir?«
    Die alte Frau nickte nachdenklich. »Dich vorbereiten. Dich warnen. Dir von der Vergangenheit erzählen? Ja. Auch das. Was weißt du von unserer Familie?«
    November schüttelte den Kopf. »Nicht viel, aber das, was ich weiß, reicht mir. Du hast meine Eltern im Stich gelassen, und du hast versucht, sie von hier zu vertreiben. Du lässt das große, schöne Haus zu einer Ruine verfallen, und du hast dich geweigert, mir beizustehen, als ich dich mehr gebraucht habe als jemals in meinem Leben. Das weiß ich von meiner Familie!« Sie s tand auf, und dieses Mal hinderte die alte Frau sie nicht daran. Sie blickte traurig zu November auf.
    »Geh fort von hier, Kind«, sagte sie leise. »Das ist der Rat, den ich dir gebe. Geh zurück auf deine Schule. Ich werde die Gebühren dafür bezahlen, wie bisher auch. Mach einen Abschluss. Studiere, mach eine Ausbildung, was auch immer du willst. Kehr nicht zurück.«
    November sah sie ungläubig an. »Wie bisher auch?«, wiederholte sie. »Was soll das heißen?«
    Die alte Frau wandte den Kopf ab. »Es ist nicht wichtig.«
    November ließ sich langsam wieder auf den Stuhl sinken. »Du hast meine Schulgebühren bezahlt?« Ihr Kopf schwirrte. Ihre Eltern hatten ihr das nie erzählt. Sie hatte immer geglaubt, dass zwischen ihrem Vater und seiner Mutter keinerlei Kontakt mehr bestünde. Er hatte so gut wie nie von ihr gesprochen, und wenn, dann hatte er sie nur voller Zorn »die alte Frau« genannt. »Warum?«, fragte sie.
    »Warum ich für deine Ausbildung aufkomme?« Die alte Frau lächelte schwach. »Du bist November Vandenbourgh.« Jetzt war sie es, die aufstand. Sie legte ihre Hand auf Novembers Schulter. »Ich würde mich freuen, wenn du morgen zu mir kämst. Mit dem Jungen. Ich erzähle euch die Geschichte unserer Familie. Unseres Hauses.«
    Der Junge. November musste nicht fragen, wen ihre Großmutter damit meinte. Sie nickte knapp.
    »Danke«, sagte ihre Großmutter.
    November sah auf ihre Hände nieder. Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde und die alte Frau hinausging.
    Wenig später kam Eliette zurück. »Und?«, fragte sie seltsam zaghaft. »Habt ihr euch ausgesprochen?«
    N ovember stieß Luft durch die Nase. »Nicht direkt. Aber ich werde sie wohl morgen besuchen gehen.«
    Eliette lächelte erleichtert. »Das ist schön«, sagte sie. »Ich freue mich!« Sie umarmte November und küsste sie auf die Wange.
    November machte sich frei und wischte mit dem Handrücken über die feuchte Stelle. »Ist ja gut«, murmelte sie. »Wir haben uns nicht irgendwie versöhnt oder so. Ich gehe bloß hin, damit sie Ruhe gibt.«
    »Es ist ein Anfang«, erwiderte Eliette herzlich. »Ich bin froh, dass du so vernünftig bist. Und jetzt koche ich uns zur Feier des Tages Spaghetti. Wenn du zurückkommst, ist das Essen fertig!«
    *
    November war die Lust vergangen, sich mit Jamie zu treffen. Er war mit

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