Das Haus am Abgrund
seinen Kumpels im Sailors – wenn sie nicht kam, würde er es wahrscheinlich kaum registrieren.
Sie stand eine Weile vor der Tür und blinzelte in den Abendhimmel. Dann schlenderte sie die Straße zum Hafen hinunter. Das Tagebuch, das sie in die Tasche ihrer Strickjacke gestopft hatte, schlug bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte. Es schien immer schwerer zu werden, wie ein Stück Holz, ein Stein, ein Klumpen Blei. November blieb stehen und zog es aus der Tasche. Es verhakte sich und kam erst frei, als sie mit einem wütenden Ruck beinahe ihre Jacke zerriss. Dann lag es in ihrer Hand, klein und leicht und harmlos. November wog es nachdenklich, ließ den Impuls vorübergehen, es mit einer weit ausholenden Bewegung in den Atlantik zu schleudern und zuzusehen, wie es sich vollsaugte und versank. Sie hielt es fest und ging weiter.
S ie ging ohne Gedanken, ohne ein Ziel, als wandele sie im Schlaf, und fand sich irgendwann im Pilchards’ Bay wieder. Es stank nach faulem Tang, Teer und verrottenden Abfällen. November japste und war mit einem Schlag wieder ganz und gar in der Wirklichkeit. Dies war ein Ort, den sie normalerweise mied. Sie hasste den Gestank, den Verfall, die Atmosphäre von Trauer, Tod und Hoffnungslosigkeit, die dem verlassenen Hafen anhaftete.
November machte kehrt. Ihr Blick streifte die verfallenen Schuppen und den rostigen Campingbus, der unter einem Baum abgestellt war. Dort lebte dieser Reporter. Wie konnte man es hier nur aushalten?
Sie war den steilen Pfad zum Dorf schon wieder ein paar Meter hinaufgeklettert, als sie Stimmen hörte. Tuscheln, dazwischen angetrunken klingendes Gelächter, jemand grölte und wurde von anderen mit Zischlauten zum Schweigen gebracht.
November zog es vor, seitlich vom Pfad Deckung zu suchen. Sie verspürte wenig Lust, irgendwelchen betrunkenen Rowdies ein leichtes und sicherlich willkommenes Ziel zu bieten.
Die Gruppe zog an ihr vorüber. Sie kannte die meisten der jungen Männer aus dem Pub. Jamie war oft mit ihnen zusammen, obwohl er sich, wenn sie dabei war, mit dem Trinken inzwischen zurückhielt. Er passte nicht zu ihnen, das hatte sie ihm schon öfter gesagt, aber er ließ sich nicht davon abbringen, dass diese Jungs seine Kumpels und Freunde seien.
November sah ihnen nach. Ein rundes Dutzend betrunkene Burschen auf dem Weg zum Pilchards’ Bay. Was wollten sie dort? Und war Jamie bei ihnen?
Wahrscheinlich war es diese Frage, die sie bewog, noch einmal k ehrtzumachen und der Gruppe zu folgen. Die jungen Männer achteten nicht darauf, was hinter ihnen war, sie waren viel zu beschäftigt damit, sich gegenseitig zu rempeln und zu beschimpfen, zu lachen, aus der Flasche zu trinken, die einer von ihnen herumgehen ließ, und Steine ins Gebüsch zu werfen.
November war gerade zu dem Schluss gekommen, dass Jamie wohl doch nicht bei ihnen war – sie war seltsam erleichtert darüber –, und wollte erneut umdrehen, da sah sie, wie einer der Jungen die Hand hob und die Gruppe stoppte. Die anderen kamen nach und nach kichernd und schimpfend zum Stehen, wobei ein paar von ihnen, die nicht mehr so sicher auf den Füßen waren, zusammenstießen, was neuerliches Gelächter und gedämpfte Flüche zur Folge hatte. »Leise!«, zischte der Anführer.
Was hatten sie vor? November wagte es, sich leise zu nähern. Sie versuchte, etwas von dem gemurmelten Gespräch zu verstehen, aber der Wind war zu laut und das Flüstern und Zischeln zu gedämpft.
»Los«, sagte der Anführer, und die Gruppe setzte sich fast im Gleichschritt wieder in Marsch. November spürte, wie sich ihre Nackenhärchen aufrichteten. Alle trunkene Albernheit war verschwunden, die Jungen gingen schweigend, wie ein finsterer Block, durch die schnell herabfallende Dämmerung. Was auch immer sie vorhatten, es war nichts Gutes.
Einen Moment lang zögerte sie, ob sie nicht einfach nach Hause laufen und sich nicht weiter um Angelegenheiten kümmern sollte, die sie sicherlich nicht betrafen und nichts angingen. Sie umklammerte das rote Tagebuch, als wollte sie aus der Berührung Rat und Sicherheit saugen. Ohne bewusste Entscheidung setzten sich ihre Füße in Marsch und folgten den Jungen.
♦
Sie verlangsamte ihre Schritte, als der durchdringende Tanggeruch ihr signalisierte, dass der Hafen vor ihr lag. Die Dämmerung ließ alle Konturen verschwimmen. Das Gelände versank im diesigen Dunst, aus dem Sträucher, Schuppen und Müllberge wie lauernde Trolle hervorstarrten.
November blieb stehen und lauschte. Der
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