Das Haus am Abgrund
eine lausige Bridgespielerin. Vater hat Jules zu ihr geschickt. Er hat ja so recht, es ist besser, wenn er Sam den Hof macht und nicht mir. Ich werde niemals seine Braut sein. Ich habe einen Bräutigam.
Ich will ihn nicht sehen. Ich will ihn niemals kennenlernen. Heute ist ein Tag, an dem ich nicht sterben möchte. Ich möchte leben und tanzen und einen Mann, der mich liebt und nicht tötet.
20
NOVEMBER
... als fiele mein Leben, das schon schwierig und unangenehm und kompliziert genug für meinen Geschmack ist, nun langsam wie ein Kartenhaus in Zeitlupe in sich zusammen. Ich sehe die Karten hinabtrudeln ... die Pik-Dame, die Herz-Sieben, das Kreuz-Ass ... Stockwerk um Stockwerk bricht zusammen, lautlos, unaufhaltsam.
Ich stehe daneben, hilflos, versuche vergeblich, den Zusammenbruch aufzuhalten, die Karten zu fangen, zu ordnen ... aber sie rutschen durch meine Finger, flattern davon wie Vögel, ich stehe mit leeren Händen da und Tränen fallen aus meinen Augen wie Regen ...
November legte ihr Gesicht in die Hände. Zwischen ihren Fingern fing sich Feuchtigkeit, die sie ärgerlich fortschlenkerte und an ihrem Kleid abwischte. Es war doch zu albern. Sie fühlte sich regelrecht verfolgt. Wenn sie durch das Dorf ging, fühlte sie die Blicke, hörte das Tuscheln und Wispern, spürte über allem wie einen stetigen, dumpfen Druck die Last der vielen Generationen auf ihren Schultern. Vandenbourgh flüsterten die Mauern, das Pflaster, die Klippe, das Meer. November Vandenbourgh. Winterkind. Novembertochter .
S ie wischte mit einer heftigen Bewegung ihr Tagebuch vom Tisch. Es wurde gegen das rote Büchlein geschleudert, das sie Adrian abgenommen hatte, und beide segelten blätterraschelnd zu Boden, wo sie mit einem dumpfen Knall landeten. November blinzelte die Tränen weg und blickte auf das aufgeschlagen daliegende rote Tagebuch. »Das Haus«, las sie flüsternd. Sie beugte sich hinunter und hob das Buch auf. Es stand kein Name auf dem Vorsatzblatt. November lächelte. Sie hatte auch einen Widerwillen dagegen, ihr Tagebuch mit Namen und Anschrift zu versehen. Als gäbe sie damit ein Stück mehr von sich preis, das jemand – oder etwas? – gegen sie verwenden könnte.
Sie begann zu lesen. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass dies nicht ihr Tagebuch, nicht ihre Handschrift war, hätte sie angenommen, die Aufzeichnungen stammten von ihr. Jeder Satz erzeugte ein Echo in ihrem Inneren, ließ Geräusche und Stimmen, Bilder und Gefühle aufblühen, die gleichzeitig fremd und vollkommen vertraut erschienen. Die Sätze erzählten von Trauer und Tod, sie erzählten von dem Haus , das sie in ihren Träumen verfolgte und dessen Stimme sie wie ein beständiges Wispern und Summen in ihrem Geist hören konnte, wenn sie es nicht mit Macht aus ihrem Bewusstsein drängte.
»Ich werde verrückt«, flüsterte sie und schloss die Augen. Da war sie, die Angst, die sie begleitete, seit ... seit es geschehen war. Das Furchtbare. Sie fürchtete sich davor, den Verstand zu verlieren.
Gestern, in dem schrecklichen Haus. Sie hatte sich überwunden, endlich hineinzugehen und dem Albtraum ins Gesicht zu blicken. Adrian war an ihrer Seite. Er war nicht so beruhigend fest und diesseitig wie Jamie, dessen Großvater Fischer gewe s en war und dessen Vater Häuser baute. Adrian wirkte ein wenig wie rauchiges Glas, das spröde war und zerbrechlich. Man konnte nur erahnen, was in ihm vorging. Er hatte diesen Blick, der manchmal ganz weit weg und dann wieder scharf und klar erschien. Sein Gesicht, das einmal das eines Jungen und dann wieder beinahe das eines müden alten Mannes war. Sie konnte sehen, dass er Schmerzen hatte, von denen er sich nicht beeinträchtigen lassen wollte. Dass er Angst hatte, die er nicht an die Oberfläche ließ. Er war stark und gleichzeitig so schrecklich leicht zu verletzen. Sie hätte ihm gerne etwas von sich gegeben, aber sie musste sich hüten. Ihr Innerstes durfte nicht angesehen werden. Sie fürchtete sich davor, was zutage treten würde, wenn sie die wohlverschlossenen Türen öffnete.
November zwang ihre Gedanken, wieder zu dem zurückzukehren, wovor sie davonliefen. Das Haus .
Schutt und ein löchriges Dach, unter dem Tauben nisteten. Sie stand in der Mitte der riesigen Ruine und musste an sich halten, nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen. War es das, wovor sie sich all die langen Monate gefürchtet hatte? Dieser Schutthaufen hier? Sie stieß mit dem Fuß einen zerbrochenen Ziegel an, der seufzend zu
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