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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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aber diese Bilder mussten schließlich irgendwoher stammen. Einbildung? Träume?
    Die alte Frau nickte. Lächelte. Schloss die Augen. Fiel mir ins Wort und beschrieb ihrerseits die Treppe, den oberen Flur, das Wohnzimmer. Natürlich, sie war schließlich dort aufgewachsen! Ich sah sie mit ganz neuen Augen an. »Sie haben dort gelebt! Sie könnten mir alles erzählen!«
    Sie seufzte tief und öffnete die Augen. »Das könnte ich.« Sie presste in einer kurzen, heftigen Aufwallung die Lippen zusammen. »Nicht heute, nicht jetzt«, sagte sie. »Lass mir etwas Zeit, Adrian.« Sie deutete auf die Teekanne und ich schenkte uns ein. Der Tee duftete zart nach Jasmin.
    »Was hast du in deinem Rucksack?«
    Ich bückte mich und öffnete ihn. »Milton Skegg hat mir erlaubt, seine Sammlung zu lesen.« Ich packte die Notizbücher und einen Teil der Zeitungsausschnitte neben meinen leeren Teller. »Da war auch noch ein rotes Tagebuch ...« Nova hatte es genommen. Das musste ich wiederbekommen, sonst würde Skegg mich nie wieder an seine Kiste heranlassen.
    D ie alte Frau griff nach einem der Notizbücher und schlug es auf. »Milton Skegg, der arme Hund«, sagte sie geistesabwesend. »Das Haus hat ihn fertiggemacht.« Sie erläuterte ihre Worte nicht, aber ich glaubte zu verstehen, was sie damit sagen wollte. Ich hatte noch nie jemanden erlebt, der so sehr auf eine Sache fixiert war und darüber verrückt geworden zu sein schien wie Milton Skegg. Das Haus hatte ihn in gewisser Weise wirklich fertiggemacht.
    Sie blickte auf und fixierte mich mit ihren hellgrauen Augen. »Nein«, sagte sie. »Es ist nicht so, wie du denkst. Nicht so einfach. Nicht so klar. Das Haus hat ihm alles genommen. Das Haus hat ihn über den Rand getrieben und zugesehen, wie er in den Abgrund fiel. Heathcote Manor herrscht über das Dorf und alle, die in St. Irais wohnen. Wer das vergisst oder anzuzweifeln wagt, der wird vernichtet.«
    Ich starrte sie an. Sie war verrückt, das hatten alle gesagt. Das schien die Wahrheit zu sein. Sie sprach von Heathcote Manor, als wäre es ein lebendes Wesen.
    Sie lächelte melancholisch, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Aber mein Gesichtsausdruck sprach wahrscheinlich laut und deutlich zu ihr. Ich senkte beschämt den Blick. Es war nicht nett, eine alte Frau spüren zu lassen, was man von ihr dachte.
    »Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Ich dachte nur ... weil du doch im Haus warst.« Sie seufzte und stand auf. »Wenn du möchtest, erzähle ich dir meine Geschichte. Aber nicht mehr heute, ich bin müde.«
    Ich bedankte mich und griff nach den Zeitungsausschnitten.
    »Warte«, sagte sie. »Lass mir das Zeug hier. Ich lese es. Es wird mir helfen, mich zu erinnern. Ich war lange im Ausland, weißt d u?« Ich nickte. Skegg hatte es mir erzählt. »In den USA«, setzte sie hinzu. »Nachdem ich mich von meinem Mann getrennt hatte. Er war ein entfernter Cousin. Deshalb heiße ich immer noch Vandenbourgh, wie bei meiner Geburt.« Sie rieb sich mit einer matten Geste über die Augen. »So ist das in meiner Familie. Der älteste männliche Vandenbourgh erbt das Haus, immer.«
    Ich sortierte die Informationen in meinem Kopf. »Dann ist Ihr Exmann jetzt der Erbe?« Aber dann gehörte Heathcote Manor ja gar nicht der alten Dame, wie es im Dorf erzählt wurde.
    Sie wandte den Kopf ab. »Er war es.« Ihre Schultern sanken herab. »Wir sind die letzten, November und ich. Es gibt keine Familie Vandenbourgh mehr. Das Haus ist bald tot.«
    Und während ich noch über ihre Worte nachdachte, die ich nicht vollkommen verstand, setzte sie leise hinzu: »Endlich.«

Novembers Tagebuch
    St. Irais, 15. Juli
    P apa hat so einen traumhaften Sommerball ausgerichtet. Freunde von ihm aus Truro waren da und einige der besseren Familien aus der Nachbarschaft, der Ballsaal hat geglitzert und geschimmert wie ein Feenpalast. Alle trugen wunderschöne Kleider, es gab richtige Musik (die Musiker waren kostümiert und trugen gepuderte Perücken, es war schrecklich stilvoll!) und wunderbares Essen, und ich habe getanzt, bis mir die Füße so wehtaten, dass ich mich hinsetzen musste. Ich glaube, ich war zum ersten Mal, seit ich denken kann, einfach nur glücklich.
    Und Cousin Jules war auch da. Er hat mir sehr entzückend den Hof gemacht.
    Dann hat Papa es ein bisschen verdorben, weil er mich als Bridgepartnerin gebraucht hat – Mama war der ganze Rummel zu viel, s ie hat sich zurückgezogen. Sammy durfte noch weitertanzen, ich habe es ihr gegönnt. Sie ist

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