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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Wind. Wenn er plötzlich aufhörte zu blasen, würde sie fallen. Wie ein Blatt, das vom Baum fiel. Wie ein Kiesel, der von der Kante brach. Wie eine Spielkarte, die vom Tisch fällt, sich in der Luft drehend, trudelnd ... Sie breitete die Arme aus, umarmte den Wind. Tief unter ihr gischteten die Wellen an die Küste. Es roch nach Tang und sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen. Fallen wie ein Blatt. Dann die Arme ausbreiten und fliegen, sich dem Wind anvertrauen, das silberne Mondlicht unter den Schwingen, hinauf in den schwarzen Himmel, zum Horizont und darüber hinaus ...
    Sie trat einen Schritt zurück, weil der Ruf zu laut, zu verlockend wurde. Das Haus würde nicht zulassen, dass sie fiel. Es würde sie festhalten, und sein Griff war unbarmherzig. Sie hatte ihn schon zu oft gespürt, und er hatte Spuren hinterlassen, die schmerzten, wenn sie daran dachte.
    Nein, lieber noch ein bisschen hier stehen bleiben, in sicherer E ntfernung zum lockenden Abgrund, und dem Silberband mit Blicken folgen, das der Mond über die Wellen breitete.
    Hatte sie jemals einen anderen Anblick als diesen gesehen? War da jemals blauer Himmel gewesen, in dem eine gleißende Sonne stand? Abendwolken, von denen das rote Licht der untergehenden Sonne funkelnde Rubine aufs Wasser warf? Sie runzelte die Stirn. Mondlicht. Nacht. Sternenhimmel. Der rauschende Atlantik, der stete, niemals verstummende Wind. Es war Nacht, immerzu. Sie würde niemals mehr das Licht der Sonne erblicken, denn sie war die Novembertochter. Die Braut.
    Sie wandte sich um und prallte gegen einen Menschen, der hinter ihr stand. Sie schrie auf, erschrocken bis auf die Knochen. Niemand war ihr je hierher gefolgt, niemand!
    Der Junge war ihr fremd. Er stand da, mager und blass, mit Augen, die nichts als Sonnenlicht und Wärme waren. Sie versank in seinem Blick. Wir kennen uns. Wir haben uns immer schon gekannt. Du bist mein Zwilling. Du bist ...
    Tauben gurrten und Federn stoben durch die Luft. Etwas flatterte dicht an ihrem Gesicht vorbei. Sie schrie auf, schlug danach, schützte ihren Kopf vor dem, was auf sie niederfiel. Taubenschnabel, Kartenspiel, scharfe Kanten, flatternde Flügel. »Adrian«, flehte sie. »Adrian, bitte, bring mich hier raus!«

21
    November schrak auf. Sie hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt, und die Ecke eines Büchleins drückte schmerzhaft in ihre Stirn. Was war geschehen, war sie eingeschlafen? Sie richtete sich auf und rieb über ihre Augen. Sie hatte in dem roten Tagebuch gelesen. Nichts von dem, was darin stand, hatte irgendwas mit ihr zu tun. Das fremde Leben eines fremden Mädchens. Sie klappte es zu und schob es in ihre Tasche. Adrian wollte es bestimmt zurückhaben. Morgen würde sie zum Kutscherhaus gehen und es ihm wiederbringen.
    Sie verließ das Zimmer und lief die Treppe hinunter. »Tante Eliette«, rief sie und durchquerte die Museumsräume, in denen schon das Licht gelöscht war, »ich gehe noch mal fort. Jamie Hewett ...« Sie verstummte, als sie sah, dass Eliette nicht allein in ihrem kleinen Büro war. Die Besucherin drehte sich zu ihr um und musterte sie mit einem Blick, in dem sich Sorge und Resignation mischten.
    »Liebes«, sagte Eliette und hob die Hand, als wollte sie November daran hindern wegzulaufen. »Schön, dass du kommst. Deine Großmutter möchte mit dir reden.«
    N ovember biss die Zähne zusammen. »Ja, Tante Eliette«, sagte sie gepresst. »Ich bin allerdings verabredet, also sollten wir uns kurz fassen.« Sie sah die Lider der alten Frau wie unter einem unvermuteten Schlag zucken. Ein Aufwallen von Mitleid, das sie sogleich erstickte, machte sich in ihrer Brust breit. Kein Mitgefühl für die Frau, die ihre Eltern und sie so schändlich behandelt hatte!
    Sie setzte sich auf den wackeligen »Notstuhl«, wie Eliette ihn zu nennen pflegte, und faltete die Hände im Schoß. Ihr Blick wich dem ihrer Großmutter aus.
    Eliette schüttelte den Kopf. »Liebes, sei nicht so ...«, sie suchte nach Worten.
    »Lass sie«, sagte unvermutet die alte Frau. »Ich verstehe ihren Zorn besser, als sie glaubt.« Sie beugte sich vor und zwang November dadurch, ihr ins Gesicht zu sehen. »Ich verstehe«, wiederholte sie eindringlich.
    November lachte. »Das glaube ich nicht«, gab sie zurück. Was glaubte die alte Frau zu verstehen? Sie wusste nicht, was in November vorging. Sie konnte nicht fühlen, was November fühlte. Dieses schwere, taube, kalte Gefühl, das sie ausfüllte, zu Boden drückte, ihr die Flügel stutzte und

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