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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Wind und das Geräusch der Wellen waren so laut, dass kaum etwas anderes darüber zu vernehmen war. Sie konnte nicht sehen, wohin die Jungen gegangen waren.
    Wie dumm, einfach hinterherzulaufen. Sie hockten wahrscheinlich gerade auf einer der zerbröselnden Hafenmauern oder waren hinunter zum Wasser geklettert, auf der Mole entlangbalanciert, an deren äußerstem Ende der Leuchtturm stand, oder sie hatten sich irgendwo auf der Pier zwischen den verrottenden Kisten einen Platz gesucht, um die Flasche herumgehen zu lassen, Gras zu rauchen und zu tun, was immer Jungs taten, wenn sie unbeobachtet miteinander herumlungerten.
    Geh nach Hause, befahl sie sich energisch. Tante Eliette wartet mit dem Essen.
    Sie ging weiter, sah sich um. Das Kribbeln in ihrem Nacken wurde stärker, lief den Rücken hinunter. Etwas ging hier vor, etwas Böses ...
    Sie konnte es riechen, bevor sie es sah. Rauch. Dann sah sie die Flammen. Die Bande hatte einen der Schuppen angezündet – den, der dem rostigen Wohnmobil am nächsten stand. Diese Idioten kamen hier heraus, um verlassene Schuppen abzufackeln!
    Sie lachte in sich hinein und wandte sich ab.
    D ie Tür des Wohnmobils ging quietschend auf. Eine halb nackte Gestalt sprang aus dem Wagen und rannte schreiend auf den brennenden Schuppen zu. Der Mann fuchtelte mit den Händen und kreischte, als stünde das wertvollste Gebäude der Welt in Flammen und nicht ein stinkender, verlassener, dreckiger Heringsschuppen.
    November hörte raue Jungenstimmen lachen und grölen. Sie sah schattenhafte Gestalten über das Gelände rennen. Einige von ihnen trugen improvisierte Fackeln – wahrscheinlich reichte ihnen der eine brennende Schuppen nicht.
    Der schreiende Mann versuchte jetzt, einen der Jungen zu packen, der an ihm vorbeirannte. Der Junge holte beinahe beiläufig aus und schlug den Mann mit einem krachenden Schwinger zu Boden. Während der Ältere auf Händen und Knien auf dem Boden kauerte und nach Luft rang, trat ein zweiter Junge ihm lachend mehrmals fest in die Rippen und die Seite. Der erste lachte und schrie: »Weiter so, Gribben!«
    Einen Augenblick lang erstarrte die Szene, als wäre ein Film gerissen. Dann hörte November sich schreien: »Lasst ihn in Frieden!«
    Die Jungen achteten nicht auf sie. Wie Fliegen, die von blutigem Fleisch angezogen wurden, sammelten sie sich um den auf dem Boden Liegenden und schlugen und traten auf ihn ein.
    November hörte sich keuchen. Sie tastete blind und hektisch nach ihrem Handy, bis ihr einfiel, dass sie es auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. »Hört auf!«, schrie sie und wollte sich in die prügelnde Meute stürzen.
    Eine Hand packte sie fest am Arm, ein Arm legte sich um ihre Kehle. »Halt dich ruhig«, flüsterte eine Stimme. »Sonst bist d u die Nächste.« Es klang überhaupt nicht drohend, eher sachlich, deshalb blieb Novembers Herz auch nicht komplett stehen, sondern setzte nur einen Schlag aus und trommelte dann heftig weiter. Sie wand sich in dem Klammergriff, bis sie sehen konnte, wer sie festhielt.
    »Jamie«, flüsterte sie. Der Anblick verschlug ihr die Stimme. Der Junge starrte finster auf die Szenerie. Die Funken stoben inzwischen bis zum Wipfel des Baumes, der in der Nähe stand. Noch hatte das Feuer nicht auf einen der anderen Schuppen oder das Wohnmobil übergegriffen, aber November konnte sehen, dass ein Gestrüpp in der Nähe anfing zu glimmen und kleine Flämmchen aus dem trockenen Gezweig schlugen.
    Die Jungen hatten von ihrem Opfer abgelassen und tanzten wie Derwische um das Feuer. Der Mann lag reglos da.
    »Du musst was unternehmen«, flehte November. »Dein Handy. Ruf einen Arzt, die Feuerwehr, die Polizei!«
    Jamie griff zögernd in seine Jackentasche. »Ich will nicht, dass sie mich für einen Verräter halten«, sagte er. »Ich könnte hier nicht mehr bleiben.«
    November stieß ungeduldig seinen Arm beiseite und nahm ihm das Mobiltelefon ab. Sie tippte die Nummer des Notrufs, und als sich eine Stimme meldete, gab sie hastig durch, was gerade im Pilchards’ Bay vor sich ging.
    Sie schob Jamie das Handy in die Tasche und zerrte an seinem Arm. »Wir müssen nach ihm sehen. Komm schon!«
    »Nova«, sagte er gequält, aber sie ließ ihn los und ging auf den reglos Daliegenden zu. Die Jungen schrien und tanzten wie in Trance und liefen brüllend um den brennenden Schuppen. Niemand beachtete November. Sie kniete nieder und berührte den M ann sacht an der Schulter, dann etwas fester. Er gab keinen Laut, kein

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