Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
Bücher geschrieben hat? Dass Agatha Christie auch Liebesromane verfasst hat, und zwar unter dem Pseudonym Mary Westmacott? Dass Raymond Chandler seinen ersten Detektivroman erst mit Mitte vierzig begonnen hat?
Jess war damals noch zu jung, doch Charlie wartete immer voller Neugierde auf Nachricht von meinem fernen Onkel. Nie mit Eifersucht. Charlie war immer schon der ausgeglichenste, entspannteste Mensch, den ich kenne.
»Gibt es neue Fakten vom Fuchs?«, fragte er immer.
Dann ging ich zu meinem Lucas-Ordner und las das jüngste Fax vor. Charlie war stets sehr beeindruckt.
Ich schickte Lucas zwar keine Verblüffenden Fakten, aber regelmäßige Updates, wenn ich gute Noten hatte oder akademische Preise gewann.
Dein Vater wäre sehr stolz auf Dich. Und ich bin sehr stolz auf Dich , faxte Lucas zurück.
Doch erst als ich zweiundzwanzig war, sahen wir uns wieder. Ich nahm mir im Anschluss an meinen Master ein Jahr frei. Ich hatte Englische Literatur studiert, mein Vater war Engländer, ich hatte einen britischen Pass – wohin, wenn nicht nach London? Ich hatte Lucas gemailt – wir waren mit der Zeit gegangen – und mich angekündigt, und er hatte darauf bestanden, dass ich bei ihm wohnte. Zumindest bis ich mich in London eingelebt hätte. Sein Haus war noch immer voller begabter, aber finanziell weniger begünstigter Studenten, doch inzwischen war er mehr als nur ihr Herbergsvater. Er war ihr Arbeitgeber. Er hatte einen Pool aus diskreten und hoch qualifizierten Nachhilfelehrern gegründet. Dies komme allen zugute, erklärte er. Seine Mitbewohner brauchten immer Geld. Schüler mit Problemen immer Nachhilfe. Und wohlhabende Eltern zahlten dafür immer gern. Eine Win-win-win-Situation.
Damals war ich einen Monat lang geblieben und hatte die Zeit in vollen Zügen genossen – das Haus, die Studenten, London, Lucas. Im Jahr darauf kehrte ich zurück, für sechs Wochen. Danach, so oft es ging. Ich sparte nur noch für die Tickets, ich legte jeden Cent zurück, von meiner vollen Stelle bei einem Verlag in Melbourne und meinem Abendjob als Englisch-Nachhilfelehrerin. Lucas hatte mich auf die Idee gebracht. Ich stieg Schritt um Schritt in der Verlagshierarchie auf, von der Volontärin zur Lektoratsassistentin zur Lektorin. Mit achtundzwanzig, Single und rastlos, kündigte ich, löste meine Wohnung auf, verabschiedete mich von Freunden und Familie und flog, wie so oft, nach London. Ich arbeitete zwei Monate lang für Lucas, als Köchin und Haushälterin, dann bekam ich eine befristete Stelle als unterbezahlte Redakteurin bei einer Literaturzeitschrift in Bath. Ich verbrachte dennoch fast jedes Wochenende bei Lucas, ging ins Theater oder blieb zu Hause und bekochte Lucas und jeden Studenten, der zufällig da war. So lernte ich auch Aidan kennen.
Zwei Jahre später war Lucas an einem sonnigen Nachmittag in Canberra Trauzeuge bei meiner standesamtlichen Hochzeit mit Aidan Joseph O’Hanlon aus Carlow, Irland, später in London und dann in Australien wohnhaft. Ein Jahr nach unserer Begegnung waren wir nach Canberra gezogen. Die dortige Handelskommission hatte Aidan eine Stelle als Übersetzer und Dolmetscher angeboten. Aidan sprach fünf Sprachen fließend, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Deutsch. Ich arbeitete damals freiberuflich als Lektorin, ich konnte von überall aus arbeiten.
Es war uns beiden wichtig, dass Lucas zu unserer Hochzeit kam. Er hatte uns schließlich zusammengeführt. Meine Mutter war, soweit ich mich entsinne, halbwegs nett zu Lucas. Die Ehe mit Walter hatte sie weicher gemacht, zumindest hatte sie darüber ihre Wut auf meinen Dad, und damit auch auf Lucas, vergessen. Walter betrieb mit Lucas gestelzte Konversation, so wie er es mit jedem tat. Jess achtete kaum auf Lucas. Sie war neunzehn und hatte nur Augen für den jungen Gitarristen, den wir angeheuert hatten, um unseren Empfang musikalisch zu begleiten. Charlie lebte damals schon in Boston, glücklich verheiratet und auf dem Weg, zum vierten Mal Vater zu werden. Er hatte es trotzdem noch zu unserer Hochzeit geschafft. Aidan und Charlie verstanden sich auf Anhieb. Da sie beide kluge, warmherzige Männer waren, hatte ich das gehofft und erwartet, und doch war ich erleichtert.
Aidan und ich waren nicht gleich zu unserer Hochzeitsreise aufgebrochen, weil Lucas noch eine Weile in Australien geblieben war. Wir hatten Reiseführer gespielt, waren mit ihm in Museen und Ausstellungen gegangen, hinauf nach Sydney und hinunter nach
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