Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
über Kommunismus versus Kapitalismus sowie die Vorzüge von Kricket gegenüber Fußball. Und es trafen noch mehr Bücher ein. Gedichte von Byron, Yeats und Wordsworth. Kinderbücher. Unsere kleinen Damen und Herren . Lucas war, wenn es um Literatur ging, nicht snobistisch. Aidan musste ein neues Regal anbringen. Felix schickte Lucas eine Dankesmail. Sein Zimmer sähe einer Bibliothek immer ähnlicher.
Wunderbar! , schrieb Lucas zurück. Bücher kann man nie genug besitzen. Doch warte, bis du siehst, was du zu Deinem zweiten Geburtstag bekommst …
Aber dann …
Als …
Danach …
Nachdem es passiert war, kaum dass Lucas meine Nachricht erhalten hatte, mitten in der Nacht, schrieb er mir. Auf Papier, nicht digital. Sie kam per Kurier, die eine Zeile, auf dickem Pergament, mit einem Fuchs als Briefkopf.
Meine liebste Ella, ich empfinde tiefsten Schmerz mit Euch. Ich bin hier, falls Ihr mich braucht. Lucas.
Es bedurfte keiner weiteren Worte. Ich weinte stundenlang. Und ich hatte bereits stundenlang geweint.
Seit jenem Tag waren beinahe zwanzig Monate vergangen. Vor vierzehn Tagen hatte Lucas mir gemailt. Wo bist du gerade, Ella?
Zu dem Zeitpunkt war ich in Margaret River, in Westaustralien. Meine Tätigkeit als Saisonarbeiterin bei einem der größten Weingüter der Region war beendet. Ich hätte den Vertrag verlängern können, doch es hatte mich weitergezogen. Seit es passiert war, hatte es mich nirgendwo lange gehalten. Ich hatte Canberra nur wenige Wochen danach verlassen. Ich war nach Melbourne gegangen, von dort nach Sydney, da hatte ich von dem Job auf dem Weingut erfahren.
Ich würde dich gern sehen , hatte Lucas geschrieben. Erlaube mir bitte, dir ein Ticket zu buchen.
Auch ich wollte Lucas sehen, und das Ticket konnte ich mir selbst leisten. Ich hatte jeden Cent, den ich verdient hatte, gespart. Ich brauchte und wollte nur das Nötigste. Ich buchte den Flug noch am nächsten Tag. Es war die richtige Entscheidung. Der Nebel, in dem ich die letzten Monate verbracht hatte, hob sich leicht.
Es war mir auch noch richtig vorgekommen, als ich am Morgen aus dem Flugzeug gestiegen war. Weil ich glaubte, London würde helfen? Weil ich in dieser Stadt einst so gute, so glückliche Zeiten hatte? Ich erhoffte mir wohl, dass London die ständige tiefe Verzweiflung etwas lindern würde.
Komm sofort nach der Landung her, hörst du? Komm gleich vom Flughafen aus zu mir.
Lucas verbarg seine Gedanken niemals hinter Floskeln. Er kam ohne Umschweife zum Punkt.
Du kannst, wie du hoffentlich weißt, so lange bleiben, wie du willst. Mi casa es su casa.
Mein Haus ist dein Haus . Das hatte ich schon oft gehört. Für seine Studenten galt das ebenso. Aidan hatte sich immer amüsiert, wenn sich Lucas am Spanischen versuchte. Lucas war ein brillanter Historiker, aber wahrlich kein Sprachtalent. Ich hatte nur zurückgeschrieben: Danke Lucas .
Ich ging die kurze Strecke von der Paddington Station aus zu Fuß. Siebenundzwanzig Jahre waren seit meinem ersten Besuch vergangen. Damals war Lucas Mitte dreißig gewesen. Jetzt war er Anfang sechzig. In meinen Augen sah er aus wie immer. Ich hatte mich im Laufe der Jahre verändert. Aus der siebenjährigen Fuchs-Diebin mit dunklem Lockenschopf war eine erwachsene Frau von vierunddreißig Jahren geworden. Als Kind war ich groß und dünn gewesen. Dünn war ich nach wie vor, auch überdurchschnittlich groß. Bis vor einem Jahr hatte ich noch langes Haar gehabt. Zwei Tage nach meiner Ankunft in Margaret River hatte ich es abgeschnitten. Seither trug ich es kurz.
Die Häuser in Lucas’ Straße erinnerten mich noch immer an Hochzeitstorten. Seine blaue Tür brauchte noch immer einen Anstrich. Doch es gab einen neuen Türklopfer, in Gestalt eines Fuchses. Ich musste nur ein Mal klopfen. Die Tür ging auf. Vor mir stand Lucas und strahlte mich an. Er hatte noch immer den wirren Lockenschopf, das Fox-Charakteristikum. Auf der Nase saß noch immer eine Brille, die eines Museums würdig gewesen wäre. Und die ausgebeulte, dreckige Hose hätte zu einem Gärtner gepasst. Als ich Lucas sah, in all seiner Vertrautheit, in all seiner Verlässlichkeit, war es um mich geschehen. Ich musste weinen.
»Ella.« Er nahm mich fest in den Arm, wartete, bis die Tränen versiegten, dann trat er zurück. »Komm rein.«
Wäre er meine Tante und nicht mein Onkel gewesen, wäre der Empfang bestimmt ein anderer gewesen. Mit Worten, nicht mit Schweigen. Es tut mir ja so leid für dich, Ella. Du Arme. Wie
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