Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
den Bäumen hindurchzugehen; allein der Anblick lässt sie zusammenzucken. Also wird sie in Richtung Süden über den Strand gehen.
Sie möchte weinen, doch das wird ihr nichts nützen. Weinen bringt Daniel nicht zurück. Es wird nicht sein Armband retten oder ihr einen Weg nach New York zu ihrer Schwester weisen. Sie steht auf, greift nach dem improvisierten Seil und steigt an der anderen Seite des grasbewachsenen Abhangs hinunter, bis sie auf den glatten, nackten Sand gelangt. Sie geht weiter und zieht die Kiste aus Walnussholz hinter sich her. Es ist besser, in der Abendkühle zu gehen und sich während der heißesten Stunden des Tages auszuruhen. Sie geht, bis die Sterne zu sehen sind, Tausende von ihnen, die in fremden Mustern am schwarzen Himmel glitzern. Sie geht, bis die Nacht die letzte Hitze vom Land verjagt. Sie geht, bis ihre Beine und Füße sich anfühlen, als wären sie flüssig, und steigt hinauf zum Saum des stacheligen Waldes und legt sich zum Schlafen in den Sand.
Isabella erkennt, dass sie nie zuvor wirklichen Hunger verspürt hat. Vielleicht kennt sie das schwache Nagen eines leeren Magens, das man vor dem Frühstück empfindet. Aber Hunger ist viel umfassender als das. Ihre Eingeweide fühlen sich wund an. Die Sonne brennt herab, als sie aufwacht, und sie weiß, dass es Selbstmord wäre, jetzt weiterzulaufen. Sie hat weniger Angst vor dem Wald als zuvor und geht ein kleines Stück, um den kargen Schatten zu nutzen. Hier gibt es noch Pfützen mit Regenwasser, und sie kann immerhin ihren Mund benetzen, damit er sich nicht wie ein Stück Stoff anfühlt. Obwohl ihr Gesicht jetzt im Schatten liegt, ist die Haut schon rissig und trocken vom Salz und dem Wind und dem Meer, das die Sonne reflektiert. Ihre Hände sind sonnenverbrannt und wund, weil sie die schwere Kiste schleppt. Sie hält die Finger vors Gesicht und fragt sich, wo ihr Ehering jetzt sein mag.
Er liegt zusammen mit dem anderen Schmuck in der mit Seide ausgekleideten Schatulle auf dem Meeresgrund. Erst vor wenigen Tagen hat sie den Wert geschätzt, ihre Flucht geplant, das Verzeichnis aufgestellt. Alles weggespült.
Sie setzt sich hin, umfasst die Knie und beugt sich vor, will es sich auf Sand und Laub bequem machen. Aber ihr Magen tut weh, sie muss essen. Egal was. Sie dreht sich um. Die Bäume wachsen dicht. In England würde sie wissen, wo sie wilde Heidelbeeren oder einen Pfirsichbaum suchen kann. Beim Gedanken an Obst läuft ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie steht auf und lässt die Kiste allein. Wer sollte sie schon stehlen? Sie geht ein Stück zwischen die Bäume, die Zweige zerkratzen ihre Arme. Sie wird von einem eindringlichen, fremdartigen Geruch überwältigt. Die Bäume und Büsche sehen aus, als würden sie nie und nimmer Früchte tragen. Alles wirkt verdorrt, vertrocknet, verhungert.
Sie erstarrt, als ein gleitendes Geräusch im Gebüsch ertönt, und weicht zurück. Eine Schlange? Oder etwas noch Schlimmeres? Sie kehrt zu der Kiste zurück, setzt sich daneben und versucht, nicht an Essen oder Wasser zu denken.
Isabella weiß natürlich, dass die Winterbournes nach dem Amtsstab suchen werden. Sie will ihn loswerden, damit sie endlich frei ist. Vor allem frei von Percy. Ihr Entsetzen ist groß genug, sie muss sich nicht noch ausmalen, wozu Percy fähig wäre, wenn er wüsste, dass sie den Amtsstab bei sich hat. Während der heißesten Zeit des Tages versucht sie wieder und wieder, die Kiste zu öffnen. Sie benutzt Steine und Stöcke und Muscheln mit scharfen Kanten. Sie quetscht sich eine Fingerspitze, die blau anläuft, doch der Kasten ist immer noch verschlossen. Der Schlüssel steckt in der Westentasche ihres Mannes. Vielleicht ist er inzwischen angespült worden, vielleicht liegt er auch tief im Ozean. Sobald sie die Zivilisation erreicht, kann sie das Ding öffnen. Schließlich ist sie nur aus Holz. Sie muss sich Werkzeuge leihen und die Kiste öffnen und Daniels Armband herausholen. Dann muss sie zu einem Hafen gelangen, von dem aus sie nach New York fahren kann. Die Winterbournes werden sie für tot halten und nicht verfolgen. Sie ist frei, sofern sie überleben und den verfluchten Amtsstab loswerden kann.
Die Schatten werden länger, und sie steht auf und geht weiter. Heute ist sie langsamer: Sie schafft jeweils nur vier Schritte beim Heranbranden und Zurückweichen der Wellen. Der Hunger schwächt sie, doch kurz vor der Dämmerung entdeckt sie eine Furche, die ein brauner Wasserlauf in den Sand gezogen
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