Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
sich reißen. Doch bevor sie das ganz erfassen und das Ruder loslassen kann, schießt es in die Höhe. Wird leicht. Arthur ist weg.
Isabella spürt ihre eigene Leichtigkeit, fühlt sich körperlos. Der Tod ist nur eine Armlänge entfernt. Eine Welle hebt das Rettungsboot an und stößt es vom Schiff weg. Sie schießt hinunter ins Wellental, schreit vor Angst, kann im Sturm die eigene Stimme nicht hören.
Doch jetzt sieht sie Land und beginnt zu rudern.
Trotz der wahnsinnigen Strömungen.
Trotz der Felsen.
Denn in der Kiste befindet sich die letzte Erinnerung an ihren Sohn.
Sie rudert. Durch das schwarze Wasser. Durch den Sturm. Durch die eisigen Nadeln des Regens, die auf sie niederprasseln. Für Daniel.
Sieben
I sabella geht eins nach dem anderen an, denn wenn sie über die unmittelbare Gegenwart hinausdenkt, überkommt sie das Entsetzen. Sie muss ein Obdach suchen, doch jenseits des gewaltigen, verlassenen Strandes sieht sie nur ein dunkles Gewirr aus stacheligen Bäumen, die schwarz und alptraumhaft in der Dunkelheit aufragen. Bei ihrem Anblick verkrampft sich ihr Magen. Sie zerrt das Rettungsboot bis zu einem Felsen, der sich aus dem weißen Sand erhebt. Einmal, zweimal, beim dritten Versuch gelingt es ihr, das Boot mit schmerzenden Armen umzukippen. Eine Seite ruht auf dem Fels, so kann sie darunterkriechen und die Kiste mit dem Amtsstab an ihren Körper drücken.
Der Regen hämmert über ihr auf den Boden des Bootes. Sie rollt sich zu einer Kugel zusammen. Ein Spalt zwischen Boot, Fels und Sand, an der breitesten Stelle nicht mehr als ein Fuß, verhindert, dass sie in vollkommener, luftloser Dunkelheit kauert. Das Meer bricht sich donnernd am Strand. Sie wartet auf die anderen. Ihr Körper zittert unkontrolliert; ihr ist kalt von Regen und Meerwasser, kälter noch vor Angst und Schock. Niemand kommt. Sie hält die Augen aufs Wasser gerichtet. Keine anderen Boote. Keine tapferen Schwimmer. Niemand.
Arthur kommt nicht. Auch Meggy nicht. Oder Captain Whiteaway. Oder Mr. Harrow.
Die schwarze Nacht verblasst nach etwa einer Stunde zu Grau. Die Dämmerung ist nicht fern. Wo sind sie? Sie brauchen lange, um vom Wrack an Land zu gelangen.
Sie wartet unter dem Boot.
Regen und Wind lassen ein wenig nach, aber es ist immer noch zu stürmisch, um sich aus dem Unterschlupf zu wagen. Sie bleibt auf der Seite im Sand liegen, die Augen aufs Meer gerichtet, während sich das schwache Tageslicht durch die Wolken kämpft. Und noch immer kommt niemand.
Gegen Mittag hört der Regen auf. Isabella kriecht unter dem Boot hervor, um die Beine zu strecken, und stellt fest, dass sie sich kaum aufrecht halten kann. Sie setzt sich in den Sand und weint. Die Tränen lassen alles vor ihren Augen verschwimmen. Weiß irgendjemand, dass sie hier ist? Wird ein Rettungsschiff kommen? Isabella weiß nicht, wie solche Dinge ablaufen. Doch sie fürchtet, dass kein Schiff kommen wird. Sie sitzt auf einem gewaltigen Strand und schaut auf eine Bucht, die wie ein Kessel geformt ist. Irgendwo da draußen, im sturmumtosten Wasser, ist ihr Mann. Er ist tot. Sie sind alle tot. Ihr wird eiskalt. Sie steht mühsam auf und zwingt ihre Beine vorwärts, über den Sand, und murmelt: »Sie sind alle tot«, murmelt es wieder und wieder, um zu sehen, ob der Gedanke in ihr Wurzeln schlagen, ob sie sich daran gewöhnen kann.
Sie sind alle tot.
Sie tritt an den Rand des Wassers, hebt die Röcke und watet bis zur Taille hinein. Das Wasser ist wärmer als die Luft. Sie erleichtert sich, wobei ihr die Schamröte in die Wangen steigt, obwohl keine Menschenseele in der Nähe ist. Dann kehrt sie an den Strand zurück, in den Schutz des umgedrehten Bootes. Das reicht für heute. Ihr Magen knurrt; sie ist hungrig, hat aber keinen Appetit. Um Essen wird sie sich morgen kümmern. Den Rest des Tages verbringt sie im Sand unter dem Boot. Neue Regenwolken ziehen heran. Dann überkommt sie die Erschöpfung. In der Dämmerung schläft sie ein.
Isabella erwacht und sieht, dass sich der Regen verzogen hat. Am dämmrigen Himmel sind nur wenige, violett geränderte Wolken zu sehen. Es wird Sonnenschein geben. Das Licht bessert ihre Stimmung, aber nur vorübergehend, denn die Nacht hat etwas an den Strand gebracht.
Körper.
Zuerst macht ihr Herz einen Sprung, weil sie glaubt, dass sie schlafen. Doch dann begreift sie schnell, dass die beiden Männer in einem unnatürlichen Winkel übereinanderliegen. Ihre Beine werden von den Wellen bewegt, die sich am Strand
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